von IVONALDO NERES LEITE*
Die Gegenwart bietet keinen Raum für eine einzige, homogene Darstellung der Judenfrage. Es gibt keine Diskrepanzen hinsichtlich der politischen Instrumentalisierung
Das "deutsche Elend" und die Juden
Die Lage Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde als erbärmlich beschrieben und erhielt den Ausdruck „deutsches Elend“. Dabei ging es nicht nur um die materielle Not der Arbeiterklasse, sondern auch um die gesellschaftspolitische Situation des Landes.
Während England sich zur „Werkstatt der Welt“ entwickelte und eine moderne industrielle Basis aufbaute und in Frankreich bereits eine Fertigungsindustrie entstand, blieb Deutschland ein im Wesentlichen ländlich geprägtes Land; rund drei Viertel seiner 23 Millionen Einwohner lebten auf dem Land. Es war im Wesentlichen eine Agrarwirtschaft.
Andererseits war das Auffälligste am „deutschen Elend“ der Anachronismus seiner Institutionen. Während England und Frankreich die Liquidierung der Ancien RégimeIn Deutschland erlebte praktisch nur das Rheinland einen Modernisierungsprozess. Im Zuge der napoleonischen Besatzung ging das Heilige Römische Reich zugrunde und es entstand der Rheinische Bund, der neben Napoleons Bürgerlichem Codex Civil zahlreiche weitere Maßnahmen wie die Abschaffung des Zehnten, der Frondienste und die Beendigung der Leibeigenschaft einführte und damit den Feudalismus in Westdeutschland in Frage stellte.
In anderen Regionen des Landes, insbesondere in Preußen und im Süden, verlief dieser Prozess jedoch sehr schleppend. Darüber hinaus wurde der Vormarsch der deutschen Modernisierung durch die Niederlage Napoleons und die durch den Wiener Kongress 1815 ausgelöste Reaktion, die in der Heiligen Allianz mündete, blockiert. Infolgedessen wurde Deutschland unter dem Namen „Germanischer Bund“ in 39 Staaten gegliedert, mit Preußen als dominierendem Staat. Deutschland wurde damit zum paradigmatischen Ausdruck der politisch-sozialen Reaktion der Heiligen Allianz.
In diesem Kontext standen eine fragile Bourgeoisie und ein Proletariat in den Kinderschuhen, das noch keine konsequente Initiative zur politischen Organisation besaß. Somit blieb die Opposition gegen das preußische Regime und der Kampf gegen das „deutsche Elend“ der jüngeren Intelligenz, nämlich der Hegelschen Intelligenz, überlassen. Es gab jedoch eine Spaltung im Einflussbereich von Hegels Werk: Auf der einen Seite gab es diejenigen, die an seinem System festhielten, woraus man die Idee des „Endes der Geschichte“ schließen konnte, eingebettet auf der politischen Ebene durch die Akzeptanz des preußischen Staates als Vernunftstaat; Auf der anderen Seite gab es diejenigen, die sich für die von Hegel vertretene Methode entschieden, eine Methode, nach der die Bewegung, einschließlich der der Geschichte, nicht aufzuhalten ist. Erstere wurden als Rechtshegelianer bekannt, letztere als Linkshegelianer.
Ende der 1830er Jahre formierte sich mit der Hegelschen Linken ein intellektueller Zirkel, der in Berlin eine Art Insel der gedanklichen Unabhängigkeit und Kühnheit bildete. Dabei handelte es sich um den „Club der Ärzte“, dem Bruno Bauer, ein bekannter brillanter Schüler Hegels und Professor an der Berliner Universität, eine prominente Persönlichkeit angehörte. Der junge Marx besuchte tatsächlich einen von ihm unterrichteten Kurs und war außerdem Mitglied des Ärzteclubs. Er freundete sich sogar mit Bruno Bauer an, der neun Jahre älter war als der Autor von Die Hauptstadt.
Im Deutschland der damaligen Zeit waren zwei Dinge grundlegend praktischer Natur und miteinander verbunden: Religion und Politik. In diesem Zusammenhang wird Bauer ein zentrales Thema der damaligen Zeit ansprechen, die sogenannte „Judenfrage“. Es ging um die bürgerlich-politische Lage der Juden im Land.
Dieser Zustand hatte viele Besonderheiten. Beispielsweise „erfuhren die Juden im Rheinland unter der französischen Besatzung bürgerliche Gleichberechtigung. Doch anschließend wurde im Rahmen des von der Heiligen Allianz geförderten Restaurationsprozesses der christliche Staat im Germanischen Bund wiederhergestellt – und durch das Edikt vom 4. Mai 1816 wurde es den Juden im gesamten Bund verboten, öffentliche Ämter auszuüben.“[1] In den folgenden Jahren war die jüdische Gemeinde mit den Einschränkungen und Zwängen konfrontiert, die das Edikt mit sich brachte. In den 1840er Jahren kam die Frage ihrer bürgerlichen und politischen Rechte auf die Tagesordnung und wurde von den Liberalen als Forderung aufgegriffen. In diesem Rahmen wird Bruno Bauer auf die Judenfrage eingehen und Marx wird einen Kontrapunkt zu dem von ihm entwickelten Ansatz setzen.
Bruno Bauer, Marx und die Judenfrage
Bei der Behandlung der Judenfrage hebt Bruno Bauer als Ausgangspunkt hervor, dass in einem christlichen Staat wie Preußen die Emanzipation nicht durchführbar sei, da es der religiöse (nicht-säkulare) Charakter des Staates sei, der die Emanzipation verhindere und in der Folge die Existenz echter Bürger beeinträchtige.[2] Kurz gesagt: In einem christlichen Staat, also einem Staat, der religiös sein kann, ist niemand emanzipiert. Er führt diese Argumentation weiter aus und weist darauf hin, dass es im damaligen deutschen Kontext eine Unverschämtheit sei, dass die Juden zwar an ihren religiösen Überzeugungen festhielten, aber dennoch vom christlichen Staat das verlangten, was sie (die Juden) nicht verlangten, nämlich dass der Staat für die Ausübung von Rechten keine religiöse Zugehörigkeit mehr voraussetzt.
Die Forderung der Juden nach einem Verzicht des Staates auf seine religiösen Ansprüche und Bedingungen hätte nach Bruno Bauer nur dann Legitimität und Sinn, wenn sie selbst - als Voraussetzung - ihre „ethnischen Ansprüche“ und religiösen Bedingungen aufgaben. Darüber hinaus schließen sie sich, sofern sie dies nicht tun und keine Kompromisse hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit eingehen, aus der menschlichen Gemeinschaft aus und isolieren sich, da sie sich als „auserwähltes“ und „privilegiertes Volk“ betrachten und sich auch so identifizieren.
Mit diesem Ansatz etablierte Bruno Bauer nicht nur einen Gegensatz zwischen Juden und Christen, sondern disqualifizierte auch den Kampf der jüdischen Bevölkerung um ihre Emanzipation. Tatsächlich ging er bei seiner Disqualifizierung der Juden noch weiter, als er sich mit der Möglichkeit ihres Emanzipationsprozesses befasste. Verankert in der Perspektive seines Meisters Hegel, konzipierte Bruno Bauer das Christentum als eine Religion mit universalem Charakter und stellte ihm den „partikularen“ Charakter des Judentums gegenüber. Auf diese Weise wäre der christliche Universalismus seiner Meinung nach anfälliger für emanzipatorische Prozesse.
Die von Bruno Bauer vorgestellte Lösung beinhaltete jedoch nicht, dass die Juden zum Christentum konvertieren würden, um vom christlichen Staat bürgerlich-politische Gleichheit, also politische Emanzipation, zu fordern. Es implizierte tatsächlich, dass sowohl Juden als auch Christen im Namen eines aufgeklärten und philosophisch idealistischen Rationalismus der Religion abschworen. Kurz gesagt: Bauers Behandlung der Judenfrage war, auch wenn sie eine gewisse politische Bedeutung hatte, eine religiöse Behandlung. Aus seinem Ansatz lässt sich folglich schlussfolgern, dass religiöse Emanzipation eine Voraussetzung für politische Emanzipation ist. Hier liegt der Streitpunkt mit Marx, der die Frage vom religiösen in den politischen Kontext verlagert.
Karl Marx geht davon aus, dass es notwendig sei, die Art der Emanzipation zu definieren, um die es geht. Es zeigt, dass die politische Emanzipation nicht direkt an die religiöse Emanzipation geknüpft ist, wie Bruno Bauer betont. Ihm zufolge führt die durch einen säkularen Staat legitimierte politische Emanzipation nicht notwendigerweise zur Emanzipation des Menschen in Bezug auf die Religion.
Indem Marx das „Problem der Judenfrage“ aus der religiösen in die politische Sphäre verlagert, berücksichtigt er die Institution des Staates und führt seine Analyse im Rahmen einer Untersuchung der tatsächlichen Entwicklung der modernen, das heißt der bürgerlichen Gesellschaftsordnung durch. Mit anderen Worten: Der Staat wird als entfremdeter Ausdruck allgemeiner Interessen betrachtet und die Zivilgesellschaft wird als realer Raum der Partikularismen begriffen. Aus dieser Perspektive geht es darum, die Vereinbarkeit von Staat (selbst wenn er säkular ist) und Religion hervorzuheben – auch wenn eine solche Komplementarität offiziell nicht vorausgesetzt wird.
Für Marx verhält sich der politische Staat gegenüber der Zivilgesellschaft auf eine Weise, die ebenso spirituell ist wie das Verhalten des Himmels zur Erde. Das heißt, der politische Staat befindet sich in einer ähnlichen Opposition und triumphiert über die Zivilgesellschaft auf ähnliche Weise, wie die Religion über die profane Welt triumphiert, und zwar in dem Maße, in dem das staatliche Gebilde mit Attributen ausgestattet ist, die es ihm ermöglichen, über die Ausgestaltung der Zivilgesellschaft zu entscheiden.
Marx‘ Überlegungen hierzu sind präzise: „Der Mensch ist in seiner engsten Wirklichkeit, in der bürgerlichen Gesellschaft, ein profanes Wesen. Hier, wo er sich selbst und andere als echte Individuen würdig macht, handelt es sich um ein unwahres Phänomen. Im Staat hingegen – wo der Mensch als Gattungswesen geschätzt wird – ist er das imaginäre Mitglied einer imaginären Souveränität, er wird seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Spiritualität erfüllt.“[3]
Daher sind die Mitglieder des politischen Staates religiös durch die Konsubstantiation zwischen individuellem Leben und Gattungsleben, zwischen dem Leben der bürgerlichen Gesellschaft und dem politischen Leben, das heißt, sie sind „insofern religiös, als die Religion hier der Geist der bürgerlichen Gesellschaft, des Ausdrucks und der Distanz des Menschen zum Menschen ist“.[4] Als Folge der genannten Ansätze werden die sogenannten Menschenrechte und Bürgerrechte unterschiedlich formuliert. Tatsächlich gibt es den Umriss der Personae des Bourgeois, des empirisch existierenden Menschen, und des Menschen als abstraktem Bürger.
Genau darin besteht nach Marx die politische Emanzipation. Mit anderen Worten: „Alle politische Emanzipation ist die Reduzierung des Menschen einerseits auf ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf ein unabhängiges, egoistisches Individuum; auf der anderen Seite der Bürger, die moralische Person“.[5]
Mit anderen Worten: Obwohl Marx die politische Emanzipation zweifellos als einen Fortschritt, als eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution betrachtet, versteht er sie nicht als gleichbedeutend mit der menschlichen Emanzipation. Dies geht weit über den Rahmen der politischen Emanzipation hinaus, und um dieses Ziel zu erreichen, entwirft die marxistische Konzeption einen Rahmen, der auf zwei Annahmen beruht: (i) dass der Mensch in sich selbst wieder zum abstrakten Bürger wird und als singuläres Wesen (in der individuellen Arbeit, im empirischen Leben, in individuellen Beziehungen) zu einem Gattungswesen wird; (ii) dass die Menschen ihre eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkennen und organisieren und daher die gesellschaftliche Kraft nicht länger in der Form politischer Kraft von sich selbst trennen. Nur dann, so Marx‘ Schlussfolgerung, werde „die Emanzipation des Menschen vollbracht sein“.[6]
Im Gegensatz zu Bruno Bauer, Marx, mit einem Tour de Force Insbesondere verortet es die jüdische Frage im Rahmen der Beziehung zwischen dem politischen Staat und seinen Voraussetzungen (materiell, wie Privateigentum, oder spirituell, wie Kultur und Religion). Tatsächlich wird über den Juden nicht auf der Grundlage seiner religiösen Besonderheit nachgedacht. In Wirklichkeit erfolgt die Annäherung an das Judentum auf dem historisch-konkreten Terrain, das heißt, es geht nicht mehr darum, die Juden „von ihrer Religion aus, sondern von den menschlichen Grundlagen ihrer Religion aus“ zu analysieren.[7]
Aus den oben genannten Ausführungen ist klar ersichtlich, wo dieses Fundament seine Wurzeln hat: in der Zivilgesellschaft. Es handelt sich dabei, Marx zufolge, um den „allgemeinen Kreislauf der Transaktionen“, des allgemeinen Handels und der Entfremdung, in dem die Vorherrschaft dem Geld zukommt. So hebt er hervor: „Die praktische Präzision, der Egoismus ist das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und zeichnet sich dadurch aus, dass aus der bürgerlichen Gesellschaft der politische Staat erst hervorgeht.“ Der Gott der politischen Präzision und des Eigeninteresses ist das Geld.“[8] Im Anschluss an diese Aussage betont Marx: „Das Geld ist der eifersüchtige Gott Israels, vor dem kein Gott bestehen kann. Geld entwürdigt alle Götter der Menschen – und macht sie zur Ware.“[9]
Indem Marx die Debatte über den politischen Staat und die Zivilgesellschaft in diesen Begriffen konzipiert, unterscheidet sich seine Herangehensweise an die Judenfrage von derjenigen Bruno Bauers. Marx selbst wird in dieser Hinsicht deutlich, wenn er auf Folgendes hinweist: „Wir sagen […] nicht, wie Bauer, zu den Juden: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren, ohne euch als völlig frei und ohne Widerspruch zum Judentum zu sehen, deshalb ist die politische Emanzipation keine eigentlich menschliche Emanzipation.“ Wenn Ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt, ohne Euch selbst menschlich zu emanzipieren, dann liegen die halben Sachen und der Widerspruch nicht nur in Euch selbst, sie liegen im Wesen und in der Kategorie der politischen Emanzipation. Wenn Sie in dieser Kategorie feststecken, unterliegen Sie einer allgemeinen Einschränkung.“[10]
Im Grunde machte Marx zur Zeit der Debatte über die Judenfrage im Deutschland des 19. Jahrhunderts die politische Emanzipation der Juden nicht von deren Verzicht auf ihre Religion und Kultur abhängig. Unter keinen Umständen. Er betonte, dass sie sich politisch emanzipieren könnten, ohne diese aufzugeben, lenkte jedoch die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass politische Emanzipation ohne menschliche Emanzipation sie nicht menschlich frei machen würde.
Im Übrigen ist es durchaus bezeichnend, dass Juden – unabhängig von ihrer Herkunft und Abstammung – im 20. Jahrhundert ihre politische Emanzipation erlangten und sogar ihren eigenen Staat gründeten. Dennoch konnte die jüdische Frage insbesondere im Kontext dieses Staates im Nahen Osten nicht in einem Umfeld des Friedens, der harmonischen Koexistenz und einer Zivilisation, in dem die Menschenrechte gleichgestellt sind, stabilisiert werden.
Basierend auf dekontextualisierten Überlegungen aus Zur JudenfrageZu Unrecht wurde Marx manchmal des Antisemitismus beschuldigt, obwohl er selbst jüdischer Herkunft war. Dies überrascht nicht, da der Vorwurf des Antisemitismus schon oft genutzt wurde, um Autoren von Ansätzen anzugreifen, die den Zionismus analytisch problematisieren, um die Glaubwürdigkeit ihrer Behauptungen zu disqualifizieren. Obwohl bewiesen ist, dass sie keine Antisemiten sind und sogar Juden sind/jüdische Vorfahren haben.
Im Allgemeinen konzentrierten sich die gegen Marx erhobenen Vorwürfe des Antisemitismus auf Textstellen von ihm, in denen es um die „Anbetung des Geldes“ (des „weltlichen Gottes“) durch die Juden ging. Was sich hier nun verbirgt – aus Unwissenheit oder bösem Willen – ist, dass Marx in Zur Judenfrageunter der Bezeichnung „Judentum“, das Gesinnung typisch für die kapitalistische Gesellschaft, ähnlich wie Max Weber es tat, als er die Beziehung zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus herstellte.[11] Tatsächlich verteidigte Marx die Juden nicht nur, sondern brachte auch und vor allem eine solidarische Haltung gegenüber ihren Forderungen zum Ausdruck.[12].
In der Zusammenfassung der Konten mit Zur Judenfragelegt Marx die Grundlagen für die wissenschaftliche Erforschung des Judentums aus der Sicht der historisch-dialektischen Methode. Danach folgt das klassische Buch von Abraham Leon, einem Juden, der im Warschauer Ghetto geboren und in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurde. Die spanische Fassung erschien unter dem Titel Materialistische Auffassung der Judenfrage.
Zeitgenössischer ist das Werk von Enzo Travessos, auf Französisch, mit dem Titel Marxisten und die junge Frage: Geschichte einer Debatte. Aus einer eher rezensionsorientierten Perspektive und mit Fokus auf die libertäre Orientierung der europäischen Juden können wir auch Michael Löwys Buch erwähnen, das den Titel trägt Erlösung und Utopie: Libertarisches Judentum in Mitteleuropa. Es gibt vier Werke, die den wissenschaftlichen Charakter der dialektischen Analyse der Judenfrage unterstützen. Dabei liegt der Schwerpunkt nach Marx auf dem Ansatz Abraham Leons, auf den ich weiter unten eingehen werde.
Jüdische Geschichte und Abraham Leons dialektische Umkehrung
Bei der Untersuchung von Hegels Denken war Marx lapidar: Er sagte, dass die Hegelsche Dialektik vom „Himmel auf die Erde“ herabgestiegen sei und dass es aus der Sicht der Analyse der materiellen Realität notwendig sei, sie umzukehren,[13] Von der Erde in den Himmel bringen: Dies ist die Perspektive, die die marxistische Dialektik einnimmt. Mit anderen Worten, die Hegelsche Dialektik wurde philosophisch auf einer idealistischen Grundlage formuliert, in der die „reale Welt“ nichts anderes war als die Verwirklichung der reinen, absoluten Idee, die seit aller Ewigkeit existiert.
Gewiss hat Marx die Logik Hegels wieder aufgegriffen, aber den seiner Philosophie innewohnenden Idealismus ausgeschlossen und das abgelehnt, was wir die „Hegelsche mystische Substanz“ oder die logische Mystik des „absoluten Geistes“ nennen können. Der marxistische Ansatz schreibt der von Hegel vorgeschlagenen Dialektik eine materialistische Interpretation zu. Das heißt, sie greift nicht auf einen „absoluten Geist“ zurück, der die Wirklichkeit bestimmt, sondern sie begreift die Wirklichkeit vielmehr als bedingt durch die Art und Weise, in der unser Wesen sein produktives Leben in dem zum Ausdruck bringt, was es materiell hervorbringt.
Mutatins mutandisAbraham Leon geht im Hinblick auf die jüdische Geschichte ähnlich vor wie Marx im Hinblick auf Hegel, nicht zuletzt, weil er sich bei seinem Analyseinstrumentarium der marxistischen Dialektik bedient. Er beginnt mit der Beklagten, dass die jüdische Geschichte das Stadium idealistischer Improvisation nicht überwunden habe. In diesem Sinne werden mehrere „Erklärungen“ angeführt, die durch idealistische Interpretationen die historische Widerstandsfähigkeit der Juden hervorheben: religiöse Treue, Monotheismus, heiliges Erbe des Glaubens, Nationalgefühl usw.[14]. Dies seien Erklärungen, betont er, die „nicht mit den elementaren Regeln der Geschichtswissenschaft harmonierten, da diese den Grundirrtum aller idealistischen Schulen kategorisch ablehnt, der darin besteht, das Grundproblem der jüdischen Geschichte – die Erhaltung des Judentums – unter dem Zeichen des freien Willens zu begreifen.“[15]
Die Perspektive müsse eine andere sein, ist sich Abraham Leon bewusst: Er weist darauf hin, dass nur die Untersuchung ökonomischer Faktoren zur Erklärung des „jüdischen Wunders“ beitragen könne. Marx resümiert in Zur Judenfrage, und hebt einige Prämissen hervor, wie etwa (i) dass es nicht notwendig ist, bei der Erklärung der jüdischen Geschichte von der Religion auszugehen; (ii) im Gegenteil, die Bewahrung der jüdischen Religion und Nationalität muss aus der Perspektive des „wahren Juden“ erklärt werden, das heißt aus der Perspektive des Juden in seiner wirtschaftlichen und sozialen Rolle; (iii) die Rettung der Juden ist keineswegs ein Wunder; (iv) Das Judentum bleibt nicht trotz der Geschichte erhalten, sondern aufgrund der Geschichte. (v) Durch das Studium der historischen Rolle des Judentums kann das „Geheimnis“ seines Überlebens in der Geschichte entdeckt werden.
Dennoch präsentiert er einen Auszug idealistischer Versionen der jüdischen Geschichte, um deren mangelnde empirische Grundlage und analytische Inkonsistenz aufzuzeigen. Ich fasse die Grundlagen eines solchen Auszuges wie folgt zusammen: (a) 1) Bis zur Zerstörung Jerusalems, schließlich bis zum Bar-Kocheba-Aufstand[16]unterschied sich die jüdische Auffassung nicht von der anderer normal verfasster Nationen wie etwa Rom und Griechenland. Konflikte zwischen Römern und Juden führen zur Zerstreuung der Juden in alle Welt.
(b) In der Zerstreuung leisteten die Juden der nationalen und religiösen Assimilation einen unbezwingbaren Widerstand: Das Christentum begegnet auf seinem Weg keinem widerstandsfähigeren Gegner, und trotz seiner Bemühungen gelingt es ihm nicht, die Juden zu bekehren. (c) Zur Zeit der „Barbareninvasionen“ stellten die Juden der Diaspora keine homogene soziale Gruppe dar: Sie waren auf verschiedene Wirtschaftssegmente verteilt. Es ist die religiöse Verfolgung, die sie dazu zwingt, sich immer mehr auf Handel und Wucher zu beschränken. Die christlichen Kreuzzüge und der dadurch ausgelöste religiöse Fanatismus verstärkten diese Entwicklung und führten zur Isolation der Menschen in Ghettos.
Abraham Leon definiert den Inferenzrahmen dieser Prämissen als Unwahrheit und stützt seine Position auf eine argumentative Denkweise, die in vier Postulaten verkörpert ist, wie ich weiter unten hervorheben werde.
Das erste Postulat basiert auf der Tatsache, dass die Zerstreuung der Juden nichts mit dem „Fall Jerusalems“ im Jahr 70 n. Chr. zu tun hat. C., da zuvor die große Mehrheit der Juden über die ganze Welt verstreut war. Für die jüdischen Massen im griechischen und römischen Reich, behauptet Abraham Leon, hatte ihr alter Ort „eine völlig untergeordnete Bedeutung. Ihre Verbundenheit mit dem ‚Mutterland‘ zeigte sich lediglich bei religiösen Pilgerfahrten nach Jerusalem, dessen Bedeutung für die Muslime mit der von Mekka vergleichbar war.“[17] Die jüdische Diaspora sei daher, fährt er fort, „überhaupt nicht ein zufälliges, durch eine Gewalttat hervorgerufenes Ereignis gewesen; Der wesentliche Grund für die jüdische Einwanderung muss in den geographischen Bedingungen Palästinas gesucht werden.“[18] Das heißt, unter schwierigen natürlichen Bedingungen ist das Überleben gewährleistet.
Das zweite Postulat betont, dass jüdische Gruppen anders behandelt wurden als die Römer und über Autonomie bei der Wahrung ihrer Interessen verfügten. Abraham Leon weist darauf hin, dass dies in Rom selbst und in Alexandria geschah.
Das dritte Postulat besagt, dass Abneigung und Hass gegenüber Juden nicht mit dem Christentum zusammenhängen, denn „die Ursache des antiken Antisemitismus ist die gleiche wie die des mittelalterlichen Antisemitismus: die Opposition gegen Kaufleute, die in jeder Gesellschaft existiert, die hauptsächlich auf der Produktion von Gebrauchswerten basiert.“[19]. In diesem Sinne muss berücksichtigt werden, dass die mittelalterliche Feindseligkeit gegenüber Kaufleuten nicht nur christlichen oder pseudochristlichen Ursprungs ist; hat auch einen heidnischen Ursprung.
Aus dieser Perspektive wurzelt der Begriff in einer Klassenideologie, das heißt in der Verachtung, die die herrschenden Klassen der römischen Gesellschaft aufgrund ihrer tief verwurzelten ländlichen Tradition gegenüber allen Formen wirtschaftlicher Betätigung empfanden, die nicht auf der Landwirtschaft basierten. Darüber hinaus muss man gemäß dieser logisch-empirischen Abfolge bedenken, dass das Christentum, das sich ursprünglich den Unterdrückten verschrieben hatte, zur Ideologie der herrschenden Klasse unter Führung der Landbesitzer wurde.
Abraham Leon weist darauf hin, dass die christliche Mentalität der ersten zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, was wirtschaftliche Aktivitäten betrifft, im Wesentlichen auf der Überzeugung beruht, dass ein Kaufmann in den Augen Gottes kaum Gutes tun könne und dass jedes Geschäft zu einem mehr oder weniger großen Teil aus Täuschung und Betrug bestehe. Aufgrund ihrer Verbindungen zum Handel war dies für die Juden ein feindseliger Kontext.
Das vierte und letzte Postulat betont, dass die Juden in der Geschichte eine soziale Gruppe mit einer spezifischen wirtschaftlichen Funktion darstellen. Aus einem Blick zurück auf die Geschichte zieht Abraham Leon den Schluss, dass „der Katholizismus die Interessen des Landadels und der feudalen Ordnung zum Ausdruck brachte und der Calvinismus (Puritanismus) die Interessen der Bourgeoisie oder des Kapitalismus, das Judentum hingegen die Interessen einer vorkapitalistischen Handelsklasse widerspiegelte.“[20].
Er fügt hinzu, dass der Unterschied zwischen dem „jüdischen Kapitalismus“ und dem eigentlichen Kapitalismus darin besteht, dass er im Gegensatz zu diesem keine neue Produktionsweise mit sich bringt. Hier besteht eine Übereinstimmung mit Max Weber, wenn er darauf hinweist, dass der „jüdische Kapitalismus“ ein spekulativer Kapitalismus der Parias war, während sich der puritanische Kapitalismus mit der bürgerlichen Arbeitsorganisation identifizierte.[21]
Fazit
Walter Benjamin hat in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte paradigmatische Überlegungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angestellt, im Lichte einer Dialektik, die den Lauf der Ereignisse „gegen den Strich“ bürsten will, denn das wahre Bild der Vergangenheit vergeht schnell und lässt sich erst in dem Augenblick, in dem es erkannt wird, als rückwärts aufblitzendes Bild fixieren.[22]
Das auf die Gegenwart gerichtete Bild der Vergangenheit kann unwiederbringlich sein (nicht wahrgenommen werden), wenn sich die Gegenwart nicht davon angesprochen fühlt. Wenn er dies nicht empfindet, lässt er sich leicht von mystifizierten Darstellungen und der destruktiven Manipulation vergangener Erzählungen einfangen. Es ist die Aufgabe der Gegenwart, durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Funken der Hoffnung zu säen, in der Überzeugung, dass andernfalls angesichts der Erfolge nicht einmal die Toten sicher sein werden, da ihre Biografien verunglimpft und ihre Erinnerungen der Empörung preisgegeben werden. Wenn man sich heute aus sozialhistorischer Sicht mit der Judenfrage befasst, kommt man dem zwingenden Bedürfnis nach, sie in diesen Kontext zu stellen. Diesen Ansatz habe ich in diesem Text verfolgt.
Noch immer in Erinnerung an Walter Benjamin können wir sagen, dass der Tag, mit dem ein neuer Kalender beginnt, als „historischer Beschleuniger“ fungiert. In Wirklichkeit sind es dieselben Tage, die in Form von Feiertagen immer wiederkehren und Tage der Erinnerung sind. Daher werden die Tage in Kalendern nicht auf die gleiche Weise wie in Uhren markiert. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewusstseins, das offensichtlich weder inhaltsleer noch durch einzelne Narrative vereinheitlicht ist.
Tatsächlich empfanden die Wahrsager, die die Zeit befragten, um herauszufinden, was sie in sich verbirgt, sie weder als leer noch als homogen. Dies gilt auch für die Tradition der Erinnerung. In diesem Zusammenhang wissen wir, dass es den Juden verboten war, die Zukunft zu erforschen. Im Gegenteil, die Tora und das Gebet werden im Gedächtnis gelehrt und die Schüler glauben, dass sie dadurch die Zukunft ans Licht bringen. Doch historisch gesehen war die Zukunft für die Juden keine leere und homogene Zeit, da jede Sekunde in ihr die enge Tür war, durch die der Messias eintreten konnte.
Nun, die Gegenwart bietet keinen Raum für eine einzige, homogene Darstellung der Judenfrage. Es herrscht kein Widerspruch in Bezug auf die politische Instrumentalisierung der Tragödien der Juden. Auch deshalb kann betont werden, dass die von Abraham Leon operationalisierte dialektische Umkehrung auch heute noch eine zentrale Bezugsquelle für die Durchführung objektiver Analysen der Judenfrage entsprechend den konkreten Situationen darstellt, in denen sie sich stellt.
*Ivonaldo Neres Leite, sSoziologe, ist Professor an der Fakultät für Bildung der Federal University of Paraíba (UFPB).
Aufzeichnungen
[1] PAULO NETO, José. Prolog zur brasilianischen Ausgabe [von Zur Judenfrage]. New York: Routledge, 2009, S. 22. XNUMX.
[2] BAUER, Bruno. Die Judenfrage. Buenos Aires: Heráclito, 1974. Die Verweise, die ich in diesem Text auf Bauers Ansätze mache, basieren grundsätzlich auf der argentinischen Version Bauers selbst. die jüdische frage. Am Rande betrachte ich auch José Paulo Nettos Prolog zur brasilianischen Ausgabe von die jüdische frage (zitiert in der vorigen Anmerkung), von Marx, veröffentlicht als Zur Judenfrage, und dabei handelt es sich um eine in Brasilien reproduzierte Version der direkten Übersetzung aus dem Deutschen, die in Portugal von Prof. angefertigt wurde. José Barata-Moura. Es gibt mehrere Versionen von Zur Judenfrage, von Marx, hauptsächlich in Brasilien, aber soweit ich weiß, ist dies die einzige Version, die direkt aus dem deutschen Original übersetzt wurde.
[3] MARX, Carl. Zur Judenfrage. Übersetzt von José Barata-Moura. New York: Routledge, 2009, S. 51. XNUMX.
[11] Siehe im Übrigen WEBER, Max. Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Madrid: Alianza Editorial, 2012.
[12] Vgl. WHEEN, Francis. Karl Marx. Rio de Janeiro: Rekord, 2001.
[13] Siehe MARX, Karl & ENGELS, Friedrich. Die deutsche Ideologie (I – Feuerbach). 10. Aufl. München: Suhrkamp, 1996.
[14] Nach LEON, Abraham. Materialistische Auffassung der Judenfrage (vor allem Kapitel I: „Grundlagen für eine wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Geschichte“). München: Suhrkamp, 1975.
[16] Es handelte sich um einen groß angelegten Aufstand der Juden gegen die Römer zwischen den Jahren 132 und 135 n. Chr., angeführt von Bar Kocheba, der sogar als der von den Juden erwartete davidische Messias (Mashiach) anerkannt wurde. Der Aufstand wurde jedoch von den Römern niedergeschlagen und die Provinz Judäa so verwüstet, dass sie mit einer Wüste verglichen wurde. Siehe übrigens BORGER, Hans. Eine Geschichte des jüdischen Volkes: Von Kanaan nach Spanien. Band 1. New York: Routledge, 1999.
[17] LEON, Abraham, a. a. cit., S. 10. XNUMX.
[21] Siehe WEBER, Max, a. a. zit.
[22] Vgl. BENJAMIN, Walter. Ausgewählte Werke, Bd. 1: Magie und Technik, Kunst und Politik – Essay zur Literatur und Kulturgeschichte. Übersetzt von Paulo Sérgio Rouanet. München: Suhrkamp, 1987.
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