Existiert die Gesellschaft nicht?

Bild: Fidan Nazim qizi
Whatsapp
Facebook
Twitter
Instagram
Telegram

von SAMO TOMŠIČ*

Überlegungen zu Wettbewerb, Solidarität und soziale Bindung

Prolog

Im Jahr 1964 veranstaltete die Abtei von Royaumont in der Ilê-de-France ein Kolloquium über Nietzsche, bei dem Michel Foucault seinen berühmten Vortrag „Nietzsche, Freud und Marx“ hielt. Darin argumentierte er, dass diese drei Namen einen radikalen Bruch in der Geschichte der Interpretationstechniken darstellten. Hier entlarven sie die Autonomie der symbolischen Ordnung (des moralischen Werts bei Nietzsche; des wirtschaftlichen Werts bei Marx; des sprachlichen Werts bei Freud) und enthüllen so die Dezentrierung des menschlichen Subjekts.

Zusammen liefern Nietzsches Genealogie, Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie und Freuds Psychoanalyse eine weitere Beleidigung der menschlichen Selbstliebe, vergleichbar mit der Kränkungen wissenschaftlich – was Freud mit der Physik der frühen Neuzeit (Dezentrierung der physischen Realität; Abschaffung des geozentrischen kosmologischen Modells) und der Evolutionsbiologie (Dezentrierung der Evolution des Lebens; Abschaffung der menschlichen Ausnahme in der Hierarchie der Wesen) in Verbindung brachte.[I]

Mit Nietzsche, Marx und Freud, die Michel Foucault als Begründer der modernen Humanwissenschaften verstand, kam es zu einer noch grundlegenderen Dezentralisierung, die die Beziehung zwischen den Menschen und der symbolischen Ordnung, dem Hauptmittel zur Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Bindungen, untergrub.

Michel Foucaults Fokus lag ausschließlich auf dem Regime der Interpretation, seiner Offenheit und Unendlichkeit, die letztlich die virtuelle Unendlichkeit der Sprache außer Kraft setzt. Das Denken von Nietzsche, Marx und Freud wird jedoch von einem weiteren gemeinsamen Problem durchzogen, das ebenfalls mit der Autonomie der symbolischen Ordnung zusammenhängt, aber auch ihre materielle Kausalität und insbesondere die Entstehung affektiver Zustände betrifft. Mit anderen Worten: Ein zentrales Thema seiner Untersuchungen ist der nicht unproblematische Zusammenhang zwischen dem Symbolischen und dem Körperlichen.

Sie untersuchen die symbolische Ordnung – in ihren drei Grundachsen: moralisch, ökonomisch und sprachlich – in ihrem problematischen Zusammenhang mit dem lebenden Körper. Zurück zu Foucaults Sorge um die Unendlichkeit der Interpretation kann hinzugefügt werden, dass das Hauptproblem bei Nietzsche, Marx und Freud um einen „Parasitismus“ des Unendlichen (des Symbolischen) gegenüber dem Endlichen (dem Körper) dreht. In allen drei Denksystemen wird die Kraft, die diesen problematischen Parasitismus zum Ausdruck bringt, „Trieb“ genannt (trieb ).[Ii]

Kurz gesagt stellt der Antrieb eine Kraft dar, die sowohl symbolisch als auch körperlich ist, die Kraft symbolischer Abstraktionen im lebenden Körper und den Ausdruck seiner organisierenden Kraft. Die symbolische Ordnung ist nie nur ein abstraktes System, sondern stellt immer bereits eine Organisation der Materialität – also einer Ökonomie – dar, sei es moralisch, sozial oder libidinös.

Das gemeinsame Merkmal dieser drei offensichtlich unterschiedlichen und scheinbar unabhängigen Wirtschaftsordnungen besteht darin, dass sie alle „affektive Ökonomien“ darstellen. Wie der Begriff direkt andeutet, beschäftigen wir uns mit der Frage der Produktion und Organisation von Affekten gerade durch den Diskurs (soziale Bindung), und der kleinste gemeinsame Nenner bei Nietzsche, Freud und Marx läuft auf die Konzeption sozialer Bindungen als affektive Bindungen hinaus. Seine intellektuellen Bemühungen drehen sich um die Frage systemischer Affekte und insbesondere von Affekten, die eine permanente Spannung zwischen der Entstehung und Auflösung sozialer Bindungen offenlegen.

Für Nietzsche ist der wichtigste systemische Affekt Ressentiments, ein anhaltendes Gefühl von Verletzung und Ungerechtigkeit, das sich von seiner Ursache gelöst und in einem autonomen Wertesystem organisiert hat, das sich gegen die Bestätigung des Lebens wendet. Dieser Affekt ist daher zutiefst ambivalent: Er signalisiert nicht nur, dass eine kontinuierliche Erkundung stattfindet, sondern sorgt auch für eine spezifische Befriedigung des leidenden Subjekts.

Für Freud ist der definierende „emotionale Zustand“ der modernen Subjektivität und damit der wichtigste systemische Affekt unbehagen (Unzufriedenheit, Unwohlsein, Unzufriedenheit). Es ist diese Zuneigung, die dem Subjekt Kapitalismus mit seinem wirksamen Status im sozialen Band gegenübersteht.

Obwohl systemische Affekte weniger offenkundig zu sein scheinen, stellt Marx schließlich in seiner Vorstellung vom Fetisch nicht nur die objektive Erscheinung wirtschaftlicher Abstraktionen (Waren, Geld, Wert, Kapital) direkt dar, sondern auch die affektive Kraft, die diese Erscheinung auf den Geist ausübt. und Körperschaften wirtschaftlicher Subjekte. Darüber hinaus untersucht Marx die Umwandlung von Geiz (Gier) in den Impuls des Kapitals, verstanden als materielle und symbolische Kraft; Dies führt ihn dazu, Mehrwert als systemisches Vergnügen zu betrachten.

Im Zentrum dieser Bemühungen steht ein entscheidendes Problem: die moderne sozioökonomische Ordnung und die moderne moralische/kulturelle Ordnung (und der Kapitalismus wird letztlich von beiden konstituiert) als ein System organisierter Aggression und Gewalt. Während Marx und Freud dieses Problem direkt in der kapitalistischen Organisation von Produktion und Genuss angehen, bleibt Nietzsche in seinem mystifizierten Ausdruck gefangen.

Anstatt den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Verbreitung von Ressentiments und der Ausweitung von Konkurrenzbeziehungen in allen Bereichen der gesellschaftlichen Existenz, auch subjektiv, anzuerkennen, schlägt Nietzsche eine transhistorische Genealogie vor. Es geht von einer konstitutiv schwachen Subjektivität („Sklave“) aus, die sich zunehmend durchsetzt und ein Wertesystem aufstellt, das sich gegen das Leben und insbesondere gegen die Möglichkeit eines Lebens ohne Negativität richtet, die Nietzsche in der selbstbejahenden Figur des Menschen theoretisiert Meister-Aristokrat.

Der „rationale Kern“ von Nietzsches Moralkritik besteht darin, Ressentiments als radikalisierten, absoluten Neid zu verstehen, der, sich gegen das Leben wendend, eine grundsätzlich asoziale Moral durchsetzt. Im Zentrum von Nietzsches Kritik des Ressentiments steht, um es mit Jacques Lacans Worten auszudrücken, die Verbindung zwischen dem Verzicht auf das Leben und der Produktion von Mehrgenüssen, eine Verbindung, die direkt mit den Problemen in Verbindung gebracht werden kann, die in Marx‘ Kritik der Sozialökonomie und in der Kritik von Marx angesprochen werden Freud zur Libidinökonomie.

 

Das Absterben des Sozialen

Wir könnten den Neoliberalismus als eine sozioökonomische Doktrin beschreiben, die die Verbreitung antisozialer Affekte vollständig entfesselte. Dies war die unmittelbare Auswirkung seines Social Engineering, oder besser gesagt des Anti-Social Engineering, das in Margaret Thatchers berüchtigter Aussage zusammengefasst wurde: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.“ Seine Aussage erscheint in folgendem Kontext:

Ich denke, wir haben eine Zeit durchgemacht, in der vielen Kindern und Menschen klar gemacht wurde: „Wenn ich ein Problem habe, ist es die Aufgabe der Regierung, sich darum zu kümmern!“; wenn „Ich habe ein Problem, ich hole mir eine Tasche, um es zu lösen!“; Wenn „ich obdachlos bin, muss die Regierung mich unterbringen!“. Auf diese Weise werfen sie ihre Probleme auf die Gesellschaft, aber wer ist die Gesellschaft? Es gibt keine solche Sache! Es gibt einzelne Männer, Frauen und Familien, und keine Regierung kann etwas tun, außer durch das Volk, und das Volk schaut zuerst auf sich selbst.

Es gibt keine Gesellschaft; Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien, die zuerst auf sich selbst schauen – auf sie muss sich der Blick einer gewählten Regierung also konzentrieren. Der Saft aus Margaret Thatchers Aussage wurde sofort aufgegriffen und als ultimativer Slogan des Neoliberalismus übernommen. Diese Beobachtung kann auch als zentraler Einstiegspunkt zum Verständnis der neoliberalen politischen Ontologie dienen.

Die Verwendung des Ausdrucks „es gibt nicht“ deutet darauf hin, dass wir es mit einer starken ontologischen Behauptung zu tun haben, da eine schwache Behauptung nur die Realität, nicht aber die Möglichkeit der Existenz der Gesellschaft leugnen würde. Wenn die Gesellschaft nicht existiert, heißt das nicht, dass sie nicht entstehen kann. Ein schwacher ontologischer Anspruch würde die Gesellschaft als Potenzialität verankern: Die Gesellschaft kann dann zu einem politischen Projekt werden, zu einem Objekt gemeinsamer politischer Arbeit und politischer Praxis, zu einer Form des „Zusammenseins“ oder „Mitseins“. Die Existenz der Gesellschaft ist daher möglicherweise nicht garantiert, aber das bedeutet nicht, dass der Begriff der Gesellschaft nicht eine Art und Weise markiert, soziale Bindungen zu organisieren, die schließlich in die Ordnung des Werdens eingeschrieben werden könnten.

Im Gegensatz dazu besteht Margaret Thatchers starker ontologischer Anspruch darauf, dass so etwas wie die Gesellschaft „nicht existiert“ – mit anderen Worten, es hat keinen Platz, nicht einmal als Annahme, als Hypothese einer möglichen Organisation intersubjektiver Interaktion und politischer Existenz. Es gibt keinen Ort – verstehen wir das topologisch –, an dem eine Gesellschaft entstehen oder ins Leben gerufen werden kann.

Folglich gibt es kein soziales Wesen als solches. Wo andere so etwas wie die Gesellschaft übernommen haben, gibt es nichts – es gibt nur eine Lücke oder ein Loch, das nicht gefüllt werden kann. Die ontologische Behauptung von Margaret Thatcher hat andere Konsequenzen. Es formuliert vor allem ein Verbot: Kein politisches Projekt der Gesellschaft kann entstehen und somit in der Seinsordnung entstehen. Die Aufgabe der Politik kann es nicht sein, etwas zu erzwingen, was es nicht gibt.

Margaret Thatchers Axiom ist daher vor allem ein ontologisches Verbot des Sozialen: Die Gesellschaft muss nicht nur aus politischen Programmen, sondern auch aus der Ordnung des Seins ausgeschlossen werden. Der Neoliberalismus ist letztlich eine politische Ontologie, die eine radikale Ausgrenzung der Geselligkeit im Namen einer alternativen Vision des „Sozialen“ vornimmt, das um wettbewerbsfähige Wirtschaftsbeziehungen und traditionelle Familienstrukturen herum organisiert ist, also um wirtschaftliche Deregulierung und patriarchale Regulierung.[Iii]

Indem Margaret Thatcher der Gesellschaft jeglichen positiven ontologischen Status oder jede Beteiligung an der Ordnung des Seins, sogar negativ, verweigert, demonstriert sie (ohne es zu wissen) Jacques Lacans Beharren auf der Natur der Ontologie als Herrschaft. Als Veranschaulichung des Diskurses des Meisters (oder des Diskurses der Herrschaft) verstanden, nimmt sich die Ontologie das Recht an, nicht nur zu entscheiden, was ist und was nicht, sondern auch, was sein sollte und was nicht.

Auch wenn das Gegenteil behauptet wird, spricht die Ontologie nie davon, neutral zu sein; wenn es befiehlt, erzeugt es diskursiv die Wirkung des Seinssetzens. Dies gilt auch für das (politische) Nichtsein: Was der ontologische Meister (hier Thatcher) sagt, existiert nicht (oder ist einfach nicht), darf in Wirklichkeit nicht existieren (und darf auch nicht sein). Die negative ontologische Aussage ist letztlich eine performative Produktion von Nichtsein mit sehr realen materiellen Konsequenzen, insbesondere der Zunahme von sozialem Elend und marginalisierten Gruppen, der Intensivierung systemischer Gewalt und so weiter.

Eine Gesellschaft darf nicht entstehen, denn eine solche ontologische Auferlegung von Geselligkeit würde aus neoliberaler Sicht nicht nur die Institutionalisierung von Verschwendung und Faulheit bedeuten, sondern auch die Suche nach einer Form des gesellschaftlichen Lebens und Vergnügens, die nicht mehr organisiert wäre. rund um die wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Wertsteigerung und des Strebens nach Wirtschaftswachstum.[IV] Wie der Name schon sagt, erzwingt der „Wohlfahrtsstaat“ (Neoliberale würden wahrscheinlich sagen „erzwingt“ oder „zwingt auf“) die Existenz der Gesellschaft und schränkt dadurch die Entfaltung des kreativen Potenzials der Gesellschaft ein, wenn nicht sogar aktiv untergräbt. („sozial“ ) Wirtschaft, Wettbewerb und der deregulierte Markt.[V]

Daher machte sich Margaret Thatcher nicht die Mühe, die Tatsache zu verbergen oder zu mystifizieren, dass der Neoliberalismus im Wesentlichen im Kampf um den Aufbau eines asozialen Staates und die Stärkung eines Systems organisierter Asozialität besteht (was der Kapitalismus letztendlich immer war). Jedes Eindringen von Kapital in den öffentlichen und privaten Bereich muss sicherstellen, dass das Leben nicht verschwendet wird und so organisiert bleibt, dass daraus ein größtmöglicher Mehrwert gezogen werden kann. Lässt man dem Leben seinen Lauf, definiert es sich angeblich durch Exzess, als „Leben über die eigenen Verhältnisse“ – oder zumindest ist das der Verdacht, den Verteidiger des Kapitalismus immer wieder gegen die Gesellschaft hegen.[Vi]

Die Gesellschaft muss aus der Seinsordnung ausgeschlossen werden, weil sie im Widerspruch zum Markt steht, der für den Neoliberalismus durchaus existiert. Der Markt spielt die Rolle des großen Anderen, des symbolischen Raums, in dem Subjektivitäten und intersubjektive Bindungen hergestellt werden.

Hier setzt der zweite Teil von Margaret Thatchers Kommentar an. Die Gesellschaft existiert vielleicht nicht, vielleicht existiert sie gar nicht, denn was sie wirklich ist – oder was der Neoliberalismus als Existenz anerkennt –, sind Individuen und ihre Familien, das heißt Körper und Fortpflanzungseinheiten, die nach „traditionellen“ binären Begriffen organisiert sind. Die Organisation selbst ist in einen symbolischen Raum eingebettet, der durch Konkurrenzverhältnisse bestimmt wird, so dass die Geselligkeit des Kapitalismus am besten durch Wettbewerb und Eigentumsverhältnisse veranschaulicht wird.

Die Geschichte ist jedoch mehr als nur bekannt.

Für Aristoteles ist der Mensch ein politisches Tier, das heißt ein Beziehungstier. Wir können uns den Menschen nicht ohne die Bindungen vorstellen, die er mit anderen Menschen knüpft. Mit anderen Worten: Wir können uns den Menschen nicht außerhalb des sozialen Wesens vorstellen, verstanden als Beziehungswesen oder einfach als Beziehung und, genauer gesagt, als Bindung. Trotz der Betonung des Einzelnen (und seiner Familien) ist es dem Neoliberalismus nicht gelungen, die konstitutive „Relationalität“ des Menschen vollständig zu leugnen.

Stattdessen präzisierte es diese „Relationalität“, indem es die Geselligkeit auf den wirtschaftlichen Austausch beschränkte, der für den Neoliberalismus die minimale und immer noch akzeptable Geselligkeit darstellt. Und um es noch einmal zu wiederholen: Der wirtschaftliche Austausch wird durch den Wettbewerb weiter spezifiziert, der einerseits den Menschen als Konkurrenztier definiert und gleichzeitig anerkennt, dass Geselligkeit – zumindest diese Art von Geselligkeit – unweigerlich durch Aggressivität aufrechterhalten wird kann schließlich seinen affektiven Ausdruck in Gier, Groll und Neid finden. Oder, wie Margaret Thatcher es ausdrückte: „Einzelne Männer und Frauen ... schauen zuerst auf sich selbst.“

Aber die neoliberale politische Ontologie mit ihrem antisozialen Programm – der Abschaffung aller sozialen Bindungen, die nicht im ökonomischen Konkurrenzverhältnis verankert sind – stellt nur ein fortgeschrittenes Stadium der inhärenten Antisozialität des Kapitalismus dar. Diese Antisozialität erkannte Marx bereits in seiner Untersuchung der kapitalistischen Organisation der Produktion rund um die autarke Akkumulation, die er als „Produktion um der Produktion willen“ beschrieb.[Vii] und nicht für die Erhaltung und Verbesserung des sozialen und „individuellen“ Lebens.

Mehrwert und Kapital, von Marx als Impuls der Selbstverwertung verstanden, weisen auf die Antisozialität hin, die bereits im Mittelpunkt des Wirtschaftsliberalismus stand und in den Jahrzehnten des Neoliberalismus die nächste Phase der Deregulierung durchlaufen sollte. Die Antisozialität des Kapitalismus findet ihren vollen Ausdruck in der neoliberalen Tendenz, soziale Bindungen abzubauen, insbesondere den Wohlfahrtsstaat als schwache sozialdemokratische Institutionalisierung wirtschaftlicher Solidarität.

Neoliberales asoziales Engineering läuft auf den folgenden Imperativ hinaus, wie er von Wendy Brown nachdrücklich formuliert wurde: „Die Gesellschaft muss abgebaut werden.“[VIII] Dieser programmatische Aspekt hängt mit einem von Marx angesprochenen Thema zusammen, nämlich dem Problem der Überbevölkerung. Mit der Idee einer industriellen Reservearmee thematisierte Marx offen eine Strukturtendenz des Kapitalismus, die mit dem kontinuierlichen Prozess des Abbaus gesellschaftlicher Bindungen und der „Entleerung der Menschheit“, der fortschreitenden Verwandlung des Menschen in ein verelendetes Wesen, einhergeht.[Ix]

Diese beunruhigende systemische Tendenz spiegelt sich gleichermaßen in Freuds Diagnose der kulturellen Malaise und in seinen Überlegungen zu dem wider, was er an anderer Stelle als „reine Todestriebkultur“ bezeichnet. Die Ausbreitung des kulturellen Unwohlseins, verstanden als systemischer Affekt, signalisiert, dass der Kapitalismus als ein System betrachtet werden muss, das gegen die Menschheit arbeitet und darüber hinaus zu einem zunehmend unkontrollierten System wird. Die Verschärfung der systemischen Gewalt (wirtschaftlicher, sexueller, rassistischer, umweltbedingter usw.) und der Abbau der sozialen und ökologischen Lebensbedingungen ist der Hauptausdruck dieses verrückt gewordenen Systems.

Die marxistische Analyse der Überproduktion (in ihrem doppelten Aspekt, bestehend aus der Produktion von Mehrwert einerseits und der Produktion von Überbevölkerung andererseits) und die Freudsche Analyse der kulturellen Malaise (ebenfalls in ihrem doppelten Aspekt, bestehend aus der gerichteten Gewalt). nach außen in Form des Zerstörungstriebs und nach innen gerichtete Gewalt in Form des Todestriebs oder der Über-Ich-Grausamkeit) drehen sich beide um die Wahrnehmung, dass die Menschheit in den Augen des globalisierten kapitalistischen Systems zunehmend überflüssig wird: Die Menschheit wird zunehmend ihrer sozialen Bindungen beraubt.

Friedrich Engels sprach vom Verschwinden des Staates im Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Der deutsche Begriff ist verzichten, dessen organische Konnotation auf einen kontinuierlichen Zersetzungsprozess schließen lässt. Die kommunistische Geselligkeit würde dann auf poststaatliche Weise organisiert, die die volle Ausübung des Gemeinwohls ermöglichen und so ein lebenswertes Leben garantieren würde. Es ist mehr als ironisch, dass der neoliberale Kapitalismus seine eigene Version des Verschwindens des Staates vorschlägt oder ihn bestenfalls auf die Rolle eines Unterdrückungsapparats reduziert, dessen Aufgabe darin besteht, die völlige Subversion des Politischen durch das Wirtschaftliche und des Sozialen zu gewährleisten der Asoziale. .

Der neoliberale Kapitalismus verstärkte damit das kapitalistische Programm zum Absterben des Sozialen. Das bedeutet nicht, dass das Soziale vollständig existiert hat, ohne innere Sackgassen, Widersprüche und antisoziale Komponenten. Aber was uns heute bleibt, ist der angesammelte Schaden mehrerer Jahrhunderte kapitalistischer Durchsetzung asozialer Tendenzen in allen Bereichen der menschlichen Existenz.

*Samo Tomšic ist Professorin für Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Autor, unter anderem von Die Arbeit des Vergnügens: Auf dem Weg zu einer Kritik der libidinösen Ökonomie (August Verlag).

Tradução: Eleuterio FS Prado.

Aufzeichnungen


[I]Freud hat dieser Liste natürlich bereits seine eigene psychoanalytische Erfindung hinzugefügt: Dezentrierung des Denkens; Entthronung des Vorrangs des Bewusstseins und des Egos im mentalen Leben.

[Ii]Es sollte sofort hinzugefügt werden, dass Nietzsche den Begriff häufiger verwendet Instinkt (Instinkt) und dies spiegelt seinen problematischen Biologismus wider.

[Iii]Der Neoliberalismus wurde zunächst auch als moralische Ordnung verstanden, die die inhärente Rationalität und Selbstregulierung von Märkten voraussetzt. Daher die zentrale Bedeutung des Freiheitsbegriffs, der jedoch schnell sein antisoziales Potenzial entfaltete, da er seit jeher als Freiheit von jeglichen Zwängen verstanden wurde.

[IV]Wir haben es hier mit dem umgekehrten „Prinzip der Konstanz“ des Kapitalismus zu tun – umgekehrt, weil es im Gegensatz zum Freudschen Lustprinzip, das einen Zustand des Gleichgewichts (Erneuerung der idealen Homöostase oder den Zustand der Abwesenheit von Erregung) anstrebt, weiter verfolgt im Gegenteil, ein Zustand ständigen Ungleichgewichts. Mehrwert bei Marx und Mehrwertgenuss bei Lacan (oder wie Freud es nennt). Lustgewinn , Lustgewinn) benennen schließlich die strukturelle Instabilität in der Organisation der gesellschaftlichen Produktion oder „das Ungleichgewicht der gesamten Akkumulationsstruktur“.

[V]Auch hier wird Konkurrenz als soziale Bindung und als grundlegende logische Bestimmung unseres sozialen Seins bzw. unseres „Mit-anderen-Seins“ im kapitalistischen Universum verstanden.

[Vi]Marx hat dieses ökonomische Vorurteil schon früh in seinen kritischen Überlegungen zur sogenannten Urakkumulation verspottet.

[Vii]Marx spielt den Bauchredner, um den Imperativ zu begründen: „Sammelt, akkumuliert!“ Das sind Moses und die Propheten! Sparen Sie also, das heißt, verwandeln Sie möglichst viel Mehrwert oder Mehrprodukt in Kapital zurück! Akkumulation um der Akkumulation willen, Produktion um der Produktion willen: Mit dieser Formel drückte die klassische Ökonomie die historische Mission der Bourgeoisie in der Zeit ihrer Herrschaft aus. Akkumulation und Produktion nützen daher nichts und sind in dieser Hinsicht nicht nur unsozial, sondern radikal unsozial. Das Merkmal des „Nutzlosseins“ vereint Akkumulation und Produktion mit Lacans Definition von jouissance.

[VIII]  Die Thesen von Browns Buch können als Kritik an Foucaults Darstellung des Liberalismus und Neoliberalismus gelesen werden, in der es eher um den Imperativ „Die Gesellschaft muss verteidigt werden“ geht. Auch in „The Ruins of Neoliberalism“ geht es Brown weniger um das Ende des Neoliberalismus als vielmehr um seinen autoritären Kern: Die Ruinen des Neoliberalismus sind die vom Neoliberalismus produzierten Ruinen, die eben die Ruinen der Gesellschaft und der Geselligkeit sind.

[Ix] Wir finden diese Behauptung auch in der neueren Diskussion des Begriffs von Lumpenproletariat.

Die Website A Terra é Redonda existiert dank unserer Leser und Unterstützer.
Helfen Sie uns, diese Idee aufrechtzuerhalten.
Klicken Sie hier und finden Sie heraus, wie 

Alle Artikel anzeigen von

10 MEISTGELESENE IN DEN LETZTEN 7 TAGEN

Alle Artikel anzeigen von

ZU SUCHEN

Forschung

THEMEN

NEUE VERÖFFENTLICHUNGEN

Melden Sie sich für unseren Newsletter an!
Erhalten Sie eine Zusammenfassung der Artikel

direkt an Ihre E-Mail!