von ERIK CHICONELLI GOMES*
Kommentar zum Film von Walter Salles
Ich bin immer noch hier geht über die bloße historische Darstellung hinaus und etabliert sich als lebendiges Dokument des kollektiven Gedächtnisses Brasiliens. Der Film eignet sich meisterhaft alltägliche Erfahrungen an, um eine Erzählung zu konstruieren, die die vielfältigen Schichten des Widerstands hervorhebt, die in der brasilianischen Gesellschaft während der Zeit der Diktatur vorhanden waren.
Die von Walter Salles vorgeschlagene Erzählkonstruktion steht in engem Dialog mit der Idee, dass sich Geschichte durch die Erfahrungen gewöhnlicher Menschen manifestiert, insbesondere derjenigen, die sich in Situationen der Unterdrückung und des Widerstands befinden. In diesem Sinne ist die Entscheidung, die Erzählung auf Eunice, meisterhaft gespielt von Fernanda Torres, zu konzentrieren, nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine methodische Entscheidung.
Der Film zeigt, wie Machtstrukturen im Alltag der Menschen Gestalt annehmen und Lebensräume in Orte der Überwachung und Unterdrückung verwandeln. Die Eröffnungsszene, in der der Hubschrauber über den Strand von Leblon fliegt, schafft eine kraftvolle Metapher über die Allgegenwart des staatlichen Unterdrückungsapparats.
Die Verwandlung der Protagonistin von einer typischen Hausfrau der Rio-Elite in eine Figur des Widerstands zeigt, wie historische Situationen Individuen über ihre vorgegebenen sozialen Positionen hinaus mobilisieren können. Diese Veränderung spiegelt einen umfassenderen historischen Prozess des Bewusstseins und der sozialen Mobilisierung wider.
Die Erzählung stellt einen tiefen Dialog mit den Praktiken des alltäglichen Widerstands her und zeigt, wie sich kleine Aktionen zur Konfrontation mit dem Regime in den einfachsten Gesten manifestierten, von der Bewahrung der Erinnerung an die Familie über Super-8-Filme bis hin zur Aufrechterhaltung der Hoffnung inmitten des erzwungenen Verschwindens.
Adrian Tejidos fotografisches Werk verdient besondere Aufmerksamkeit, da es ihm gelingt, die Dialektik zwischen Unterdrückung und Widerstand visuell zu übersetzen. Durch den bewussten Einsatz von Licht und Schatten entsteht eine Atmosphäre, die die Widersprüche der dargestellten historischen Epoche widerspiegelt.
Die Anwesenheit der Kamera in der Hand in bestimmten Momenten stellt eine direkte Verbindung zum brasilianischen Cinema Verité her und schlägt eine Brücke zwischen Fiktion und historischen Dokumenten. Diese ästhetische Wahl verstärkt das Bekenntnis des Films zur historischen Wahrheit, ohne seine erzählerische Kraft aufzugeben.
Die narrative Konstruktion des Films steht in direktem Dialog mit historiografischer Forschung, die den systematischen Charakter staatlicher Gewalt während des Militärregimes hervorhebt. Die mit zurückhaltender, aber schockierender Brutalität geschilderte Szene der Verhaftung von Rubens Paiva spiegelt die von der Nationalen Wahrheitskommission dokumentierten Berichte über die vom Staat angewandten Repressionsmethoden wider.
Die DOI-CODI-Umgebung, die Walter Salles mit kalkulierter Kälte darstellt, stellt nicht nur einen physischen Ort der Folter dar, sondern symbolisiert ein ganzes institutionalisiertes System der Unterdrückung. Die Interpretation dieser Momente durch Fernanda Torres brachte filmisch zum Ausdruck, was die jetzt der Forschung zugänglichen DOPS-Akten über die Behandlung politischer Gefangener offenbaren.
Paivas Familienerzählung dient als Mikrokosmos, um ein umfassenderes Problem zu verstehen: den systematischen Abbau brasilianischer demokratischer Strukturen. Der Film zeigt, wie die intellektualisierte Mittelschicht, die den Putsch zunächst unterstützte, nach und nach auch zum Opfer des Repressionsapparats wurde, den sie legitimierte.
Der auffälligste Aspekt der Arbeit liegt in ihrer Fähigkeit, aufzuzeigen, wie der Staatsterrorismus auf verschiedenen Ebenen funktionierte. Neben körperlicher Gewalt deckt der Film auch psychische Gewalt gegen die Familien vermisster Politiker auf. Eunices unaufhörliche Suche nach Informationen über ihren Mann spiegelt eine Realität wider, die in der brasilianischen Gesellschaft noch immer präsent ist.
Walter Salles gelingt es, durch Eunices Verwandlung den Prozess der erzwungenen Politisierung einzufangen, den viele Familien während des Regimes erlebten. Der Film steht im Dialog mit historiografischen Studien, die zeigen, wie Frauen, insbesondere die Ehefrauen und Mütter vermisster Politiker, zu wichtigen Akteuren des Widerstands wurden.
Die ständige Präsenz der Angst, dargestellt durch subtile Elemente wie misstrauische Blicke und geflüsterte Gespräche, findet sich parallel in den Zeugnissen, die von Forschern gesammelt wurden, die die Erinnerung an diese Zeit untersuchten. Der Film zeigt, wie Psychoterror ein bewusstes Instrument der sozialen Kontrolle war.
Die Verwendung von Familienarchivbildern in Super 8 dient nicht nur als ästhetische Ressource, sondern stellt auch eine wichtige historische Quelle über diese Zeit dar. Diese damals in bürgerlichen Familien verbreiteten Heimaufnahmen wurden zu wichtigen Dokumenten für das Verständnis des Alltagslebens während der Diktatur.
Der Film thematisiert auch das Thema Straflosigkeit und institutionelles Schweigen. Der Mangel an Antworten auf das Schicksal von Rubens Paiva spiegelt ein größeres Problem wider: die Politik der Verschleierung und Verleugnung, die in Teilen der brasilianischen Gesellschaft bis heute anhält.
Der Übergang zwischen historischen Perioden wird durch die Präsenz von Fernanda Montenegro als Eunice der 2000er Jahre meisterhaft dargestellt. Diese narrative Wahl steht im Dialog mit Studien über Erinnerung und kollektives Trauma und zeigt, wie die Wunden der Diktatur auch in nachfolgenden Generationen offen bleiben.
Der Film zeigt, wie die Familienstruktur, die traditionell als Schutzraum angesehen wird, zum direkten Ziel staatlicher Gewalt geworden ist. Die Destabilisierung familiärer Beziehungen war ein wesentlicher Bestandteil der erneuerten Terrorstrategie des Regimes.
Die Darstellung der Elite Rios und ihrer Widersprüche wird durch historiografische Studien zur Rolle der privilegierten Klassen während des Militärregimes gestützt. Der Film legt die Risse innerhalb dieser sozialen Klasse offen und zeigt, wie sich die anfängliche Unterstützung für den Putsch in Widerstand verwandelte, als die Gewalt auch ihre eigenen Kreise erreichte.
Walter Salles schafft es, durch seine Erzählung einen Beitrag zu dem zu leisten, was Historiker als „Pflicht der Erinnerung“ bezeichnen. Der Film etabliert sich nicht nur als künstlerisches Werk, sondern als wichtiges Dokument für die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses über diese Zeit.
Der im Film behauptete Mangel an endgültigen Antworten auf Rubens Paivas Schicksal zeugt vom anhaltenden Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit in Brasilien. Der Film zeigt, dass das Verschwinden eine staatliche Politik war, die bis heute nachwirkt.
Das Werk ist Teil eines wichtigen historischen Rückblicks auf die Zeit der Diktatur und trägt zur Dekonstruktion von Erzählungen bei, die den vom brasilianischen Staat begangenen Schutz der Menschenrechte verharmlosen oder rechtfertigen.
*Erik Chiconelli Gomes ist Postdoktorand an der juristischen Fakultät der USP.
Referenz
Ich bin immer noch hier
Brasilien, 2024, 135 Minuten.
Regie: Walter Salles.
Drehbuch: Murilo Hauser und Heitor Lorega.
Kameramann: Adrian Teijido.
Schnitt: Affonso Gonçalves.
Künstlerische Leitung: Carlos Conti
Musik: Warren Ellis
Besetzung: Fernanda Torres; Fernanda Montenegro; Selton Mello; Valentina Herszage, Luiza Kosovski, Bárbara Luz, Guilherme Silveira und Cora Ramalho, Olivia Torres, Antonio Saboia, Marjorie Estiano, Maria Manoella und Gabriela Carneiro da Cunha.
Bibliographie
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