von FERNANDO R. DE MORAES BARROS*
Kommentar zu Henry Burnetts Buch.
Singular, der Ausdruck, der Henry Burnetts Buch Namen und Inhalt gibt – Musikalischer Spiegel der Welt – bezeichnet einen der bedeutendsten Momente des Versuchs des jungen Friedrich Nietzsche O Geburt der Tragödie, um spekulativ den Ursprung der attischen Tragödie zu definieren. Zu Letzterem würden uns, so der deutsche Philosoph, eine doppelte Bewegung führen: durch die Abkehr des Lyrikers von der künstlerischen Subjektivität und durch die Vereinigung von Klang – einer nicht-figurativen phonischen Dimension – und dem Wort – eine Sphäre, die der begrifflichen Artikulation eigen ist.
Als Produkt dieses Zusammenflusses, durch den sich Musik und Poesie bedingt durchdringen, würde dann nach Nietzsches Interpretationshypothese das Volkslied als der ursprüngliche Keim entstehen, aus dem das tragische Spektakel geboren wurde und wuchs, hier gesehen aus der Perspektive der so- „Metaphysik des Künstlerischen“ genannt, als gespenstisch-melodisches Abbild der Welt selbst: „Aber das Volkslied gilt uns als musikalischer Spiegel der Welt vor allem der Urmelodie, die nun eine parallele traumhafte Erscheinung sucht.“ , mit dem Ziel, sie in Gedichten auszudrücken.“[I]
Die Idee, die Henry Burnetts Buch regelt, ist sein großartiges Einblickbesteht sozusagen darin, mit exegetischem Einfallsreichtum und argumentativer Kreativität diese Wiegenstruktur auf das Liederbuch der brasilianischen Popmusik zu übertragen, deren Entstehung nicht mehr genetisch als eine eindeutige und unabgrenzbare Essenz interpretiert werden kann, die man im Lichte einer Kritik annehmen kann Meditation – historisch, die Figur einer anthropologisch-kulturellen Neuerfindung eines kompositorischen und nuancierten Inhalts: „In gewisser Weise“, betont Henry Burnett, „wenn es hier eine These gibt, dann die, dass das, was in Brasilien und im lateinamerikanischen Lied geschah, passierte.“ der Neuanfang eines in Europa erschöpften Stils, der bei seiner Ankunft in den Tropen Fragmente zusammenführte, sie mit einem fremden Rhythmus vermischte und ein archaisches und provenzalisches Genre neu erfand, das hier in die Kategorie der Darstellung von Kultur und Identität aufstieg“ (S. 55). ). Allein für diese These wird das Buch unverzichtbar.
Nietzsches „Werkzeug“-Einsatz ist ebenfalls sehr gut umgesetzt. Der strategische Einsatz als Interpretations- oder Erklärungsinstrument zusätzlich zur ausschließlichen konzeptuellen Analyse der Zeichen, die sein Erbe ausmachen, wäre in der Tat ein Zeugnis einer echten Nietzscheschen Haltung und letztlich eine Hommage an sein Philosophieren . Wie Foucault in diesem Zusammenhang sagen würde: „Das einzige Zeichen der Dankbarkeit, das man einem Gedanken wie dem Nietzsches entgegenbringen kann, besteht genau darin, ihn zu benutzen, zu verzerren, ihn zum Brutzeln und Schreien zu bringen.“[Ii]
Mit dieser Methode beschränkt sich Henry Burnett jedoch nicht auf den hermeneutischen Horizont, der Nietzsches Überlegungen entspricht. Nachdem er ihm sozusagen das Ruder des Bootes übertragen hat, versucht er, weitere erfahrene Reisebegleiter an Bord einzuladen – etwa Mário de Andrade, Theodor Adorno, Sérgio Buarque de Holanda, Caetano Veloso, José Miguel Wisnik usw. – und alle, die bereit sind, den Archipel unseres ältesten populären Musikrepertoires zu erkunden, der sicherlich umfangreich und nuancenreich ist.
Aus diesem Grund könnte man, wenn ich nicht mehr als nötig sagen möchte, argumentieren, dass sein Spiegel im Laufe des Buches zu einer Art Kaleidoskop wird, in dem die theoretischen Sterne die Richtung der Erkundung leiten und sicherstellen. So sehr, dass der Text in formaler Hinsicht auf seine Weise die für Theodor Adornos Stil typische „Konstellation“ widerspiegelt.[Iii]
Was seinen Inhalt betrifft, versäumt es auch nicht, die Aufgabe, die Mário de Andrade so sehr am Herzen lag, erneut auf den neuesten Stand zu bringen: in der brasilianischen klassischen Musik den unbekannten Klang folkloristischer und ländlicher Lieder zusammenzuführen, der aus einem „ „neues“ Terrain. , Charaktere, die die brasilianische Musikkritik bisher nicht vorhergesehen hatte – als ob die gebildete Technik keine andere Aufgabe hätte, als sich in ihren eigenen Annahmen zu verzehren und auf diese Weise die Entstehung einer erneuerten nationalen Musikalität zu ermöglichen.[IV]
Und auch aus methodischer Sicht stimmt Henry Burnetts Buch auf ebenso aufschlussreiche Weise mit der expositorischen Ausrichtung von überein Wurzeln Brasiliens, gekennzeichnet, laut Antonio Candido, durch „ein gewisses Vertrauen in die Intuition, das es einem ermöglicht, über das angesammelte Wissen hinauszugehen und ‚Empathie‘ aufzubauen, eine mitfühlende und undefinierbare Identifikation mit dem Untersuchungsgegenstand.“[V] –, und in diesem Sinne würde die verwendete Methode auch mit den notwendigen Unterschieden in Einklang stehen Einfühlung (angeborene und geniale Empathie), mit der Nietzsche seine beispielhafte Analyse des psychologischen Typs Jesu durchführt, wobei er ihn mal errät, mal imaginiert.[Vi]
So stellt Burnett gleich zu Beginn des Kapitels „Presentiments“ fest: „Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass dieses dem Lied Brasiliens gewidmete Buch zunächst nur imaginär und nicht genau durchdacht oder geplant war, auch nicht als solche.“ als Forschungsprojekt oder als historisch-kritische Studie“ (S. 29).
Indem er jedoch Musik und Ästhetik, mündliche Überlieferung und Theorie zusammenführt und so eine poetisch-erbauliche Art der Reflexion entstehen lässt, ist der Autor des Musikalischer Spiegel der Welt ein ähnliches Risiko einzugehen, wie es dem Autor selbst drohte d'Die Geburt der Tragödie? „Ich fürchte immer“, sagte Nietzsche in einem Briefkontext, „dass die Philologen es wegen der Musik nicht lesen wollen, ebenso wie die Musiker es wegen der Philologie nicht lesen wollen und die Philosophen wegen der Musik und Philologie auch nicht.“[Vii]
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns nur ohne Vorurteile oder Angst auf die herausfordernde Reise begeben, die das Buch auf uns nimmt. Es gibt jedoch noch andere Herausforderungen, vor denen der Leser steht. Schließlich gibt es keine offensichtliche Nabelnähe zwischen dem Griechenland von Aischylos und dem Brasilien von Noel oder Mário de Andrade, so verlockend der Vergleich auch sein mag, und es handelt sich auch nicht gerade um einen Herder der Tropen. Der Karneval in Rio ist faktisch nicht mehr der alte Fastnachtspiel Europäischer sowie ländlicher Samba und Bumba-Meu-Boi sind künstlerisch nicht dazu bestimmt, die Arkana einiger Ur-Unos oder die literarisch-musikalischen Heldentaten von Archílochus zu enthüllen.
Aber das Interessante ist, dass Henry Burnett in seinem beunruhigenden Vorstoß niemals die Annäherung an diese Stützpunkte erleichtert oder erzwingt. In einer anderen Form der Darstellung wird er die Universalität ohne Zeit und Raum des Liedes suchen. Denn wenn keine der oben genannten Referenzen eine Einheit widerspiegeln bzw Kontinuum Historisch gesehen gäbe es jedoch etwas Gemeinsames zwischen sprechenden und singenden Wesen, oder, wie Henry Burnett argumentiert, einen „maximalen musikalisch-poetischen Ausdruck“, der erreicht wird, „ohne die tiefe und unbewusste rhythmische und melodische Verbindung mit dem Klanguntergrund zu verlieren“Tonuntegrund), das laut Nietzsche das Wesentlichste des Menschen definiert“ (S. 140).
Hier würde es sich um eine Gesamtheit handeln, die nicht durch die Einzigartigkeit und Universalität des Konzepts erreicht wird, sondern durch eine intuitive Vision einer vordiskursiven Ordnung, die auf einer somatisch-klanglichen Basis beruht, die über alle Sprachen hinaus verständlich und gefestigt ist wenn, genau genommen, in intensiven Schmerz- und Lustempfindungen. Laut Nietzsche werden in diesem Zusammenhang „alle Grade der Lust und Unlust – Äußerlichkeiten einer für uns unsichtbaren ursprünglichen Grundlage – im Klang symbolisiert (Tonne) des Sprechers“.[VIII]
Was uns jetzt jedoch am bedeutsamsten ist, ist vielleicht die Schlussfolgerung, zu der uns der deutsche Philosoph am Ende dieser Notiz führen möchte, nämlich dass nur „für diejenigen, die mitsingen, eine Lyrik existiert.“ Populäre Musik“.[Ix] Beim gemeinsamen Singen ist das Lied beliebt, weil es überindividuell und anonym erlebt wird; national, weil es die klangliche und verstärkte Widerspiegelung der instinktiven Anordnung eines bestimmten Kollektivs ist.
Und alles in allem bleibt es dabei, dass das, was das nationale Volkslied aus einer solchen Perspektive charakterisieren würde, nicht nur seine sicherlich wertvollen ethnischen Vektoren wären, sondern auch und vor allem eine umfassende multikulturelle Vision, die das brasilianische Musikschaffen berücksichtigt in seiner pluralistischen Weite – eine Mischung aus Indianern, Afrikanern und Portugiesen – unabhängig davon, ob es ausgeprägte „einheimische“ Merkmale aufweist oder nicht. Vor allem, wenn Brasilianer nur diejenigen wären, die in Brasilien geboren und aufgewachsen sind, wie Mário de Andrade einmal sagte, „könnten die Italiener auch nicht die ägyptische Orgel, die arabische Geige, den griechischen und hebräischen Choral singen, die Polyphonie, dass es sich um nordisches, flämisches Angelsachsen und den Teufel handelt“.[X]
Wenn uns selbst die vielschichtigen und zickzackförmigen Ursprünge unserer musikalischen Seele entgehen, liegt das im Grunde an einer Reihe kultureller Stolpersteine und prägender Missgeschicke, schicksalhaften Hinterlassenschaften, die unser Selbstverständnis deregulieren und dehydrieren. Frucht einer Spiritualität, die diesem Schicksal abgeneigt ist, Musikalischer Spiegel der Welt Es erweist sich daher als hoffnungsvoller und notwendiger Lichtblick.
*Fernando R. de Moraes Barros Er ist Professor für Philosophie an der Universität Brasília (UnB). Autor, unter anderem von Nietzsches musikalisches Denken (Perspektive).
Rezension ursprünglich im ArtCultura-Magazin veröffentlicht.
Referenz
Henry Burnett. Musikalischer Spiegel der Welt. Campinas, PHI Editora, 2021, 256 Seiten.
Aufzeichnungen
[I] NIETZSCHE, Friedrich. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA). Berlin-New York: München: de Gruyter, 1999, v. 1, § 6, S. 48.
[Ii] FOUCAULT, Michel. Les jeux du pouvoir. In: DOMINIQUE, Grisoni, (org.). Philosophierichtlinien. Paris: Bernard Grasset, 1976, S. 174.
[Iii] Siehe JIMENEZ, Marc. Adorno lesen. Rio de Janeiro: Francisco Alves, 1977, S. 15.
[IV] Siehe ANDRADE, Mário de. Essay über brasilianische Musik. Belo Horizonte: Itatiaia, 2006, S. 17-24.
[V] Offen, Antonio. Verschiedene Texte. São Paulo: Zwei Städte, 1995, S. 328.
[Vi] Siehe übrigens NIETZSCHE, F. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA). Berlin-New York: De Gruyter, 1999, v. 6, § 28-32, S. 198-203.
[Vii] Brief an Erwin Rohde vom 23. 1871. In: NIETZSCHE, Friedrich. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Berlin-New York: De Gruyter, 1979, Teil II, v. 1, nein. 170, S. 248.
[VIII] NIETZSCHE, Friedrich. Musik und Worte (Posthumes Fragment Nr. 12 [1], vom Frühjahr 1871). Discurso, Nr. 37, São Paulo, 2007, S. 172.
[Ix] Gleich, S. 181.
[X] ANDRADE, Mário de, op. cit., s. 13.
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