von FLAVIO AGUIAR*
In Berlin verurteilte eine Großdemonstration mit Tausenden Menschen die Haltung von Friedrich Merz und der AfD
Gäbe es eine Richterskala für die deutsche Politik – also jene, auf der die Intensität von Erdbeben gemessen wird –, wäre es in der vergangenen Woche mit Sicherheit zu einer Explosion gekommen.
Die Woche begann am Montag, dem 27., mit dem Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau in Polen durch die Rote Armee der Sowjetunion im Jahr 1945. Das Thema ist heikel und hinterlässt bei den Deutschen immer wieder Nerven am Rand. Hautblume.
Am Mittwoch, dem 29., hat der Deutsche Bundestag einem Antrag des Oppositionsführers Friedrich Merz von der Christlich Demokratischen Union (CDU) zugestimmt, die Gesetze und Vorschriften zur Einwanderung und zur Gewährung von Asyl.
Der Antrag erfolgte im Gefolge hochemotionaler Verbrechen, an denen Einwanderer aus überwiegend muslimischen Ländern beteiligt waren. Der erste Vorfall ereignete sich im Dezember letzten Jahres, als ein Einwanderer aus Saudi-Arabien mit einem Lastwagen Menschen auf einem Weihnachtsmarkt in Magdeburg angriff. Dabei tötete er sechs Menschen und verletzte über 6.
Der zweite Vorfall ereignete sich am 22. Januar, als ein Einwanderer aus Afghanistan in Aschaffenburg mehrere Menschen erstach und dabei zwei von ihnen tötete, darunter ein zweijähriges Kind, und drei weitere verletzte.
Solche Vorfälle rufen das Schreckgespenst des „islamischen Terrorismus“ hervor, wie ihn Fremdenfeinde des rechten Spektrums seit jeher nennen, obwohl bislang alles darauf hindeutet, dass es sich dabei um Einzeltaten von Menschen mit psychischen Problemen handelte.
Im Bundestag stimmten 348 Abgeordnete für den Antrag, 345 dagegen, zehn Enthaltungen und 30 Abwesenheiten. Die entscheidenden Stimmen für die Annahme des Antrags kamen von Abgeordneten der Partei Alternative für Deutschland (AfD), Alternative für Deutschland, rechtsextrem. AfD-Fraktionschef Alice Weidel jubelte über das Ergebnis und sagte, Friedrich Merz habe einen Antrag eingebracht, der eigentlich ihrer Partei gehöre. Zuvor hatte Friedrich Merz erklärt, er werde alles dafür tun, dass der Antrag durchkomme, auch wenn er dafür mit Stimmen der AfD rechnen müsse.
Dann begann das Erdbeben. Es zeigt sich, dass sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Naziherrschaft bei den traditionellen Parteien die Tradition etabliert hat, nicht mit der extremen Rechten zu verhandeln. Sie hat einen Namen: „Brandmauer“, was eine Brandschutzmauer zwischen zwei Zwillingsgebäuden meint. Und die Haltung von Friedrich Merz wurde von vielen als Bruch mit dieser Tradition verstanden.
Die Reaktionen waren schnell und heftig. Michel Friedman, ein einflussreiches CDU-Mitglied und ehemaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat seinen Austritt aus der Partei angekündigt. Der 99-jährige Albrecht Weinberg, ein Holocaust-Überlebender und ehemaliger Auschwitz-Häftling, der von der deutschen Regierung ausgezeichnet wurde, sagte, er gebe die Medaille zurück, weil er den Bruch mit dieser Tradition im Bundestag nicht akzeptieren könne.
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel ist aus ihrem unterwürfigen Schweigen seit ihrem Rücktritt von Ämtern und dem Parteivorsitz herausgetreten und hat das Vorgehen von Friedrich Merz öffentlich kritisiert. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sowie Politiker anderer Parteien übten Kritik an Merz.
In Berlin protestierten Tausende auf einer Großdemonstration gegen die Haltung von Friedrich Merz und der AfD. Weitere Demonstranten versammelten sich vor der CDU-Zentrale in der Klingenhöferstraße no. 8, und übte Druck auf die Partei aus, ihre Position zu überdenken.
Das Ergebnis war überwältigend. Am Freitag, 31. Januar, legte Friedrich Merz den Vorschlag vor, den am Mittwoch verabschiedeten Antrag in ein nun bindendes Gesetz umzuwandeln. Die Debatte wurde in den Medien als „hitzig“, „emotional“ und „historisch“ beschrieben. Und am Ende des Nachmittags stand nach Auszählung der Stimmen fest, dass der Vorschlag mit 350 Gegenstimmen, 338 Ja-Stimmen, fünf Enthaltungen und 40 Abwesenheiten abgelehnt worden war. Auch wenn die Abstimmung geheim war, war klar, dass es auch innerhalb der Partei von Friedrich Merz zu Überläufern gekommen war.
Wie ist diese Abfolge von Ereignissen zu interpretieren? Kanzlerkandidat Friedrich Merz hatte offenbar drei Wochen vor der Bundestagswahl einen Testballon gestartet, um seine Führungsposition zu stärken. In den Umfragen liegt die CDU auf Platz eins und die AfD auf Platz zwei. Und andere Umfragen deuten darauf hin, dass eine Mehrheit der Wähler eine strengere Einwanderungs- und Asylpolitik befürwortet.
Nun bleibt die Frage, welchen Einfluss diese turbulente Woche auf die Wahlen haben könnte – oder auch nicht. Es kann sein, dass Friedrich Merz Wolle sammeln ging und geschoren wieder herauskam. Oder anders gesagt: Durch das Überwinden der Firewall wurde diese zumindest zerstört.
* Flavio Aguiar, Journalistin und Autorin, ist pensionierte Professorin für brasilianische Literatur an der USP. Autor, unter anderem von Chroniken einer auf den Kopf gestellten Welt (boitempo). [https://amzn.to/48UDikx]
Ursprünglich veröffentlicht in der Rubrik „O Mundo Agora“ von Rádio França Internacional (Brasilien).
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