Mussolini – die letzten Tage Europas

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von ERIK CHICONELLI GOMES*

Kommentar zum Buch von Antonio Scurati, neu übersetzt

1.

Im dritten Band seiner monumentalen Tetralogie über Benito Mussolini und den italienischen Faschismus befasst sich Antonio Scurati mit der kritischen Periode von 1938 bis 1940. Diese Jahre stellen nicht nur den Höhepunkt des faschistischen Regimes dar, sondern auch den Beginn seines unumkehrbaren Niedergangs. Das Werk steht in der Tradition dokumentierter historischer Erzählungen und verbindet sachliche Genauigkeit mit einem Ansatz, der sowohl wichtige politische Ereignisse als auch die alltäglichen Erfahrungen der vom Regime betroffenen einfachen Menschen in den Vordergrund stellt.

Die Erzählung beginnt im Mai 1938, einem symbolträchtigen Moment, in dem Mussolini in Begleitung von Vittorio Emanuele III. und seinem Schwiegersohn Galeazzo Ciano die Ankunft Hitlers zu einem offiziellen Besuch in Italien erwartet. Diese Eröffnungsszene legt das zentrale Thema des Buches fest: die fortschreitende Unterordnung des italienischen Faschismus unter den deutschen Nationalsozialismus in einem Prozess, der im katastrophalen Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg gipfeln sollte.

Antonio Scurati rekonstruiert mit bemerkenswerter Präzision den Geisteszustand des italienischen Diktators in diesem entscheidenden Moment: „Mit fieberhafter Präzision und einer fesselnden Erzählweise rekonstruiert Antonio Scurati den beängstigenden Delirium Benito Mussolinis, der sich der pathetischen Wahnvorstellung hingab, er könne die Entscheidungen des Führers beeinflussen“ (S. 14). Diese Illusion der Gleichheit zwischen den beiden Diktatoren stellt die erste große Selbsttäuschung dieser Zeit dar und offenbart die Fragilität eines Regimes, das seine Legitimität auf dem Bild von Stärke und Herrschaft gründete.

Einen Wendepunkt in den italienisch-deutschen Beziehungen stellte die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland dar, die kurz vor Hitlers Besuch erfolgte. Italien, das sich zuvor als Beschützer der österreichischen Unabhängigkeit positioniert hatte, akzeptiert nun nicht nur passiv die Anschluss, sondern es begann ein Prozess der Nachahmung der Nazi-Politik, der in der Verkündung italienischer Rassengesetze gipfeln sollte.

Die Rassengesetze, die der Autor als „beispiellos streng“ beschreibt, werden nicht als äußere Auferlegung, sondern als bewusste Entscheidung des faschistischen Regimes dargestellt. Antonio Scurati vermeidet vereinfachende Erklärungen und untersucht die zahlreichen Faktoren, die zur Einführung dieser Politik führten, von diplomatischen Erwägungen bis hin zu den ideologischen Widersprüchen des italienischen Faschismus selbst, bei dessen Entstehung der Antisemitismus kein zentrales Element war.

Besonders aufschlussreich für Antonio Scuratis Methodik ist seine Behandlung der Umsetzung der Rassengesetze. Der Autor beschränkt sich nicht darauf, die Entscheidungen der Machtzirkel zu schildern, sondern untersucht die unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Maßnahmen. Von der intellektuellen Elite, die versuchte, diese Politik „wissenschaftlich“ zu rechtfertigen, bis hin zu den jüdischen Bürgern, die plötzlich zu Parias wurden, zeichnet das Buch die Auswirkungen dieser Politik auf die verschiedenen Schichten der italienischen Gesellschaft nach.

Die Figur von Galeazzo Ciano, Mussolinis Schwiegersohn und Außenminister, erweist sich als zentrales Element der Erzählung. Anhand der berühmten Tagebücher Cianos enthüllt Antonio Scurati die wachsenden internen Meinungsverschiedenheiten des Regimes hinsichtlich seiner prodeutschen Ausrichtung. Diese internen Spannungen kommen in der offiziellen Geschichte des Faschismus selten ans Licht; dort wird er eher als monolithischer Block dargestellt.

2.

Während Europa unaufhaltsam auf einen Krieg zusteuert, enthüllt das Buch die Zersplitterung der ideologischen Einheit des italienischen Faschismus. Die Spaltung des Regimes in „Germanophile“ und „Anglophile“ offenbart, dass seine Außenpolitik weniger von Überzeugungen als vielmehr von Opportunismus und in zunehmendem Maße von Benito Mussolinis persönlicher Eitelkeit und Voluntarismus bestimmt war.

Die Entscheidung zum Kriegseintritt, die im Juni 1940 nach dem Fall Frankreichs getroffen wurde, wird von Antonio Scurati in all ihren widersprüchlichen Dimensionen rekonstruiert. Der Autor stellt die grandiose Rhetorik der berühmten Rede von der „Stunde der unwiderruflichen Entscheidungen“ dem konkreten Wissen Mussolinis über die mangelnde Vorbereitung des Landes gegenüber:

In diesem dritten Band seines großen literarischen Projekts beschreibt Antonio Scurati die schicksalhafte dreijährige Periode von 1938 bis 1940, den Höhepunkt der Selbsttäuschung des faschistischen Italiens, das sich der Schande der Rassengesetze und dem Bündnis mit Nazi-Deutschland beugte, und rekonstruiert die letzten Tage eines Europas, das von barbarischen Missbräuchen erschüttert wurde und nicht in der Lage war, dem Fluch des Totalitarismus zu entkommen. (Seite 8)

Einer der wertvollsten Aspekte von Antonio Scuratis Arbeit ist seine Fähigkeit, wichtige politische Entscheidungen mit alltäglichen Erfahrungen zu verknüpfen. Anhand unterschiedlicher Charaktere – von hochrangigen Beamten bis hin zu einfachen Bürgern – zeigt der Autor, wie die Politik des Regimes den Alltag der Italiener veränderte: von der Schulbildung bis zu den Familienbeziehungen, von den Arbeitspraktiken bis zu den Freizeitformen.

Der Totalitarismus stellt sich somit nicht nur als formales politisches System heraus, sondern als eine Kraft, die alle Dimensionen der sozialen Erfahrung durchdringt und verändert. Dieser Ansatz vermeidet die Verdinglichung des Faschismus als rein ideologisches oder institutionelles Phänomen und enthüllt ihn als komplexe soziale Praxis, die von zahlreichen Akteuren und Interessen getragen wird.

In seiner Abhandlung über die internationalen Beziehungen dieser Zeit vermeidet Antonio Scurati sowohl Determinismus als auch vereinfachenden Voluntarismus. Die Eskalation zum Krieg wird als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels struktureller Faktoren – Italiens geopolitischer Lage, seiner begrenzten industriellen Basis, seinem Bedarf an Rohstoffen – und konkreter politischer Entscheidungen einzelner Personen unter bestimmten Umständen dargestellt.

3.

Das Werk widmet sich insbesondere der Veränderung von Benito Mussolinis öffentlichem Image während dieser kritischen Zeit. Der Diktator, dessen Legitimität auf der Demonstration von Stärke und Vitalität beruhte, begann Anzeichen körperlicher und politischer Erschöpfung zu zeigen. Die wachsende Kluft zwischen Propaganda und Realität, zwischen imperialistischer Rhetorik und den tatsächlichen Fähigkeiten des Landes wird zu einem wiederkehrenden Thema.

Besonders deutlich wird dieser Wandel in der berühmten Kriegserklärungsrede, die er vom Balkon des Palazzo Venezia hielt. Antonio Scurati rekonstruiert nicht nur den Inhalt der Worte des führen, sondern das komplette Szenario: die auf dem Platz versammelte Menge, die unterschiedlichen Reaktionen der Anwesenden, die Vorbereitungen der Veranstaltung hinter den Kulissen. Das Ergebnis ist eine mehrdimensionale Analyse dieses entscheidenden Moments, die sowohl Glorifizierung als auch Vereinfachung vermeidet.

Der internationale Kontext ist eine weitere Stärke der Arbeit. Das faschistische Italien wird in seinen Beziehungen zu den anderen europäischen Mächten dargestellt – nicht nur zu Nazi-Deutschland, sondern auch zu Frankreich, dem Vereinigten Königreich und der Sowjetunion. Diese Beziehungen werden sowohl in diplomatischer als auch in kultureller Hinsicht analysiert, wobei die gegenseitigen Wahrnehmungen und Vorstellungen hervorgehoben werden, die politische Entscheidungen beeinflusst haben.

Die letzten Kapitel des Buches, die die ersten italienischen Militäroperationen nach dem Kriegseintritt schildern, fungieren als tragischer Epilog. Der Kontrast zwischen der Erwartung eines „Parallelkrieges“ – in dem Italien an der Seite Deutschlands kämpfen, aber seine strategische Autonomie bewahren würde – und der Realität eines auf moderne Konflikte schlecht vorbereiteten Landes lässt das Schicksal des Faschismus in den kommenden Jahren erahnen.

Der Wert der Arbeit von Antonio Scurati geht über das historische Interesse am italienischen Faschismus hinaus. Wie der Autor selbst andeutet, handelt es sich um „einen tragischen und kraftvollen Roman, der zugleich als Warntafel für unsere Zukunft dient“ (S. 9). Die Analyse der sozialen, kulturellen und politischen Mechanismen, die den Aufstieg und das Fortbestehen des Faschismus ermöglichten, bietet wichtige Erkenntnisse über die Verwundbarkeit heutiger Demokratien.

Antonio Scuratis Erzählmethode, die rigorose dokumentarische Recherche mit literarischen Techniken verbindet, führt zu einer Geschichte des Faschismus „von unten nach oben“ – einer Geschichte, die sich nicht auf Hauptfiguren und Ereignisse beschränkt, sondern zu verstehen versucht, wie sich autoritäre Macht im Alltagsleben materialisierte und von verschiedenen sozialen Gruppen erfahren wurde.

Dieser dritte Band der Tetralogie erweist sich somit als grundlegender Beitrag nicht nur zum historischen Verständnis des Faschismus, sondern auch als Reflexion über die sozialen Mechanismen, die autoritäre Regime ermöglichen. Indem er die letzten Tage eines Europas am Rande des Abgrunds rekonstruiert, bietet uns Antonio Scurati nicht nur eine Erzählung über die Vergangenheit, sondern auch eine Warnung vor den politischen Dynamiken der Gegenwart.

*Erik Chiconelli Gomes ist Postdoktorand der Juristischen Fakultät der USP und Akademischer Koordinator des Forschungs- und Studienzentrums der Hochschule für Rechtswissenschaften (ESA/OABSP).

Referenz


Antonio Scurati. Mussolini: Die letzten Tage Europas. Übersetzung: Marcello Lino. New York: Oxford University Press, 2025, 384 Seiten. [https://amzn.to/3GylyBR]


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