Auf den Spuren der Dünen

Bild: Vishnu R Nair
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von DANIEL BRASILIEN*

Was stört dich an Anitta? Schlechte Musik für die Anspruchsvollsten. Der extreme sexuelle Reiz, die aufdringliche Sinnlichkeit für die Moralisten

Was ist der grundlegende Unterschied zwischen Mick Jagger, der in den 60ern seinen Arsch schüttelte, und Anitta im Jahr 2022? Nun ja, das Grundlegende ist, dass der eine ein Mann und der andere eine Frau ist. Aber ... dahinter steckt viel Industrie, viel verhaltener Protest, viel Selbstbestätigung, viel Vorurteil. Ich werde nicht einmal über die Qualität der Musik sprechen, sondern über die Haltung der Öffentlichkeit und der Medien. Ist es sein Gewicht wert? Sind sie ihr Gewicht wert?

Künstler stehen in der Vitrine. Sie wissen, dass sie gesehen, analysiert, kopiert, mythologisiert, gehasst, geliebt, ignoriert und vieles mehr werden. Zumindest sollten sie es wissen. Wenn sie im weitesten Sinne des Wortes politische Positionen beziehen, fühlen sie sich unwohl. Einige, die eher intellektuell sind, beziehen dies in ihren Diskurs ein und werden zu Vertretern von Teilen der Gesellschaft: LGBTQI+-Idole, Befürworter der Arbeiterklasse, hartgesottene Sexisten, umweltbewusste Pazifisten. Andere, eher instinktiv, verwandeln sich in einen Mythos, ohne es zu wissen. Manche auch nach dem Tod, wie die Geschichte zeigt.

Der Einsatz des Körpers als Ausdruck war in der westlichen Welt bis ins XNUMX. Jahrhundert stets den Tänzern vorbehalten. Sänger sollten ihr Talent statisch, höchstens aber mit Armbewegungen zeigen. Offensichtlich haben sehr viele Tänzer gut gesungen und umgekehrt. Daraus entstanden Kabarett, Musiktheater, gesungene Tänze, filmische Choreografien, Videoclips. Schon viel früher verbanden Populärkulturen auf der ganzen Welt den Gesang unverhohlen mit dem sich wiegenden Körper.

Die mit dem Radiozeitalter entstandene Musikindustrie musste sich in den 50er Jahren an das Aufkommen des Fernsehens anpassen. Frank Sinatra in Anzug und Fliege wich Elvis, dem Becken. Und der Rock der 1960er Jahre wiederholte die Konfrontation, mit den Beatles in Hosenanzügen auf der einen Seite und Mick Jagger, der auf der anderen schwankte. Warum tanzte kein Beatle?

Und es gab und gab schon immer Frauen. Historisch tanzbar, in allen Kulturen. Männer spielen, Frauen tanzen. Aber wenn Frauen tanzen und singen oder spielen und komponieren, beginnen sie, einige Konzepte zu ändern. In der Popmusik, von Carmen Miranda bis Tina Turner, wurde eine ganze Tradition von Kabaretts und Nachtclubs Teil des Medienrepertoires, die zu Anitta führte.

Hinweis: Elis Regina, Ella Fitzgerald, Edith Piaf oder Janis Joplin rollten nie auf der Bühne. Dieses Schaukeln ähnelte eher der Avenue, der Samba-Schule, Mardi Grass oder dem Bordell.

Die eher tropischen Völker, die von Natur aus weniger Kleidung tragen, zeichnen sich durch eine schamlosere (und stolzere) Zurschaustellung ihres Körpers aus. Ob in Simbabwe, Parintins oder Bahia, Sängerinnen und Sänger treten mit leichten Federn auf, eingehüllt in Schweiß und Verlangen. Ein großer Teil dieser Kultur wurde von Axé-Musik, Funk und Popmusik absorbiert und standardisiert. Und es war Madonna, die im Zeitalter der Musikvideos diese Entblößung des Körpers als Botschaft, als integralen und unauflöslichen Teil der von ihr produzierten Musik am radikalsten verkörperte.

Wir sind also im Jahr 2022 angekommen. Mit anderen Worten: Wir sind also in Anitta angekommen. Eine latinisierte Madonna, die erfolgreichste von mehreren Epigonen (dieses Wort sollte im weiblichen Geschlecht vorkommen!), mit einer großen panamerikanischen Anhängerschaft. Gemeinsam ist eine bewusste Haltung als Bürger, Verfechter bürgerlicher Rechte und demokratischer Freiheiten sowie eine erfolgreiche Berufsführung.

Was stört dich an Anitta? Schlechte Musik für die Anspruchsvollsten. Extremer Sexappeal, protzige Sinnlichkeit für die Moralisten. Sogar Betty Boop wurde Mitte der 30er Jahre mit solchen Vorwürfen konfrontiert. Man vergisst, dass populäre Zeitungen während der Militärdiktatur Frauen in knapper Kleidung an den Kiosken zeigten. Der Ausdruck „Zusammenfassungskostüme“ stammt übrigens von früher, aus den 1950er Jahren, aus der Zeit der schwankenden Theaterstars, von Lalaus kleinen Mädchen. Sogenannte „Männer“-Magazine zeigten auf den Titelseiten nackte Brüste von „Weltschauspielerinnen“. Und drinnen zeigten sie den Rest.

Die fast ausgestorbenen Zeitungskioske sind viel prüderer. Nacktheit ist auf den Titelseiten von Zeitungen nicht zu sehen, auch auf dem Weg zum Aussterben. Die zeitgenössische brasilianische Gesellschaft, zunehmend kommerzialisiert, evangelisiert, rückschrittlich in ihren Bräuchen und elitär in ihren Bestrebungen, zeigt mit dem schuldigen Finger auf künstlerische Manifestationen. Sie versucht, Ausstellungen zu zensieren, Aufführungen zu verurteilen und Künstler zum Schweigen zu bringen.

Anitta hat gerade den VMA gewonnen (Video Music Awards) für das beste lateinamerikanische Musikvideo. Die Choreografie mit starkem sexuellem Reiz ist provokativ. Ebenso wie die Rolle von Elvis, Mick und Ney Matogrosso. Von Tina, von Madonna, von Frenéticas. Es wird nicht die Welt verändern, indem man mit dem Hintern wackelt, sondern die Choreographie mit öffentlichen Erklärungen gegen Sexismus, Zensur und den obskurantistischen Moralismus neopfingstlicher Kirchen begleiten. Wie Madonna Millionen junger Menschen auf der ganzen Welt beeinflusst haben muss, indem sie den Gebrauch von Kondomen förderte und AIDS und Vorurteile bekämpfte.

Mick? Nun ja, politisch unberechenbar, vertrat er nie eine sehr klare Position zu sozialer Klasse oder wirtschaftlicher Ungleichheit, wie Roger Waters oder John Lennon. Aber er brachte die Rolling Stones nach Kuba und schüttelte fast sechs Jahrzehnte lang den Hintern, indem er Konservative verhöhnte.

Anitta ist jedenfalls jung und hat noch viel vor sich. Zur Erinnerung an die Platinschwestern: Isabelita Perón war Kabaretttänzerin, bevor sie Perón heiratete und Präsidentin wurde. Evita war keine Tänzerin, weil sie nicht viel Talent hatte, aber sie versuchte es. Und es ging noch weiter, wenn es darum ging, ein Mythos zu werden.

* Daniel Brasilien ist Schriftsteller, Autor des Romans Anzug der Könige (Penalux), Drehbuchautor und Fernsehregisseur, Musik- und Literaturkritiker.

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