Die andere Seite von Marx – philosophische Gespräche

Álvaro Barrios, Kupferstich aus einer Boulevardzeitung, 1976
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von ANDRE ITAPARICA*

Kommentar zum Buch von José Crisóstomo de Souza

1.

O Kehrseite von Marx spiegelt mehrere Charakteristika seines Autors José Crisóstomo de Souza wider: Es ist intelligent, scharfsinnig, abschweifend, grenzüberschreitend und kontrovers. Da ich kein Experte für Marx bin, beabsichtige ich nicht, die andere Seite von Das Gegenteil von Marx, was angesichts der Durchsichtigkeit seiner Prosa und der ständigen Erinnerung des Autors an das Erreichen seiner Ziele sogar unnötig wäre. Im Gegenteil, ich beabsichtige, als relativ informierter Leser die Grundzüge des Werks, seine Absichten und Ziele hervorzuheben.

Das Buch bietet eine kritische Rekonstruktion des Werkes von Karl Marx mit dem Ziel, das Erbe zu erörtern, das der historische Materialismus für das Denken und die politische Praxis unserer Gegenwart hinterlassen hat. In diesem Sinne handelt es sich nicht nur um eine Abrechnung mit der marxistischen Tradition, sondern auch mit den Avataren dieser Tradition, etwa der kritischen Theorie und der poststrukturalistischen Identitätspolitik. Unser Autor steht diesen Tendenzen kritisch gegenüber, verfolgt aber gleichzeitig sein eigenes Programm akademischer Forschung und intellektueller Intervention aus einer Perspektive, die als „praktisch-produktiv materialistisch“ charakterisiert und mit dem Ausdruck „pragmatische Poetik“ abgekürzt wird.

Dies ist der Name einer Forschungsgruppe unter der Leitung von Crisóstomo de Souza, deren Leitlinien im Sammelband zu finden sind Philosophie, Handeln, Schaffen: Pragmatische Poetik in Bewegung (EDUFBA), von ihm organisiert. Sein konkreter Vorschlag besteht in der Verbindung des demokratischen und emanzipatorischen Charakters des Pragmatismus/Neopragmatismus mit der Betonung der historisch-sozialen Dimension Hegels und des materialistischen Aspekts von Marx (Produktionsparadigma), wobei er von letzterem jedoch deren metaphysische Voraussetzungen und Schlussfolgerungen abzieht.

Generell folgt die Plattform der pragmatischen Poetik den zeitgenössischen Tendenzen einer antimetaphysischen, antifundamentalistischen, kontextualistischen und antimentalistischen Philosophie. Doch statt eine sprachlich vermittelte Intersubjektivität hervorzuheben, gewinnt sie von Hegel und Marx die Dimension einer materiell vermittelten sozialen Interaktion zurück, in der menschliche Handlungen innerhalb einer Dynamik verstanden werden, in der der menschliche Umgang mit Objekten eine Einbahnstraße ist, da die Menschen ihre Objekte nicht nur setzen, sondern auch von ihnen beeinflusst und gesetzt werden.

In diesem Sinne wäre der Vorschlag einer pragmatischen Poetik mit seinem Lob praktisch-sensiblen Handelns eine bessere Alternative zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und den verschiedenen Strömungen des Poststrukturalismus, gerade weil er nicht auf Sprache, sondern auf verkörpertes Handeln fokussiert.

Kurz gesagt: Im Rahmen des Projekts einer pragmatischen Poetik, Das Gegenteil von Marx versucht, auf die metaphysischen, religiösen und sogar mystischen Annahmen hinzuweisen, die laut dem Autor im Gegensatz zu der landläufigen Meinung heimlich in Marx‘ Werk erhalten geblieben sind, um dann auf einen produktiveren, kreativeren und tatsächlich emanzipierenderen Umgang mit Karl Marx hinzuweisen.

2.

Der „offiziellen Geschichte“ zufolge hätte Marx in seiner letzten Phase die metaphysischen Überreste der Idee einer Gattungswesen (Gattungswesen) Mensch feuerbachschen Ursprungs, wobei diese Metaphysik durch eine materialistische politische Ökonomie ersetzt wird, die sich auf die realen Produktionsverhältnisse konzentriert, die die Gesellschaft bestimmen, d. h. eine wissenschaftliche Theorie, die frei von normativen Gesichtspunkten ist.

Im Gegensatz zu dieser Darstellung beschreibt Crisóstomo de Souza in den ersten Kapiteln des Buches anhand einer Analyse der Texte und einer verfeinerten Lektüre der von Marx verwendeten Metaphern ausführlich, wie er die metaphysische Idee einer Essenz gemeinschaftlicher Natur nicht nur nicht aufgab, sondern sie auf die Spitze trieb, indem er einen teleologisch orientierten Kommunismus vorschlug, der den einzig wirksamen Weg darstellen würde, die menschliche Existenz mit ihrer gemeinschaftlichen Essenz in Form eines mystischen Körpers zu vereinen.

In dieser Interpretation verlor die klassische deutsche Philosophie, die aus der Theologie hervorgegangen war, ihre zentralen Merkmale also nicht, auch nicht in der Form einer materialistisch verwurzelten dialektischen Wissenschaft. Laut unserem Autor folgt Marx diesem Weg, indem er die revolutionäre Politik als einen Ersatz für die Religion konzipiert, der in eine „Wissenschaft vom wirklichen Menschen und von der geschichtlichen Entwicklung“ umgewandelt wird (S. 168).

Wo aber liegt das Problem dieses Ursprungs des historischen Materialismus? Wäre es nicht gerade das Ziel der Junghegelianer, der Gruppe, zu der Marx gehört, eine säkulare und emanzipatorische Interpretation jener berechtigten Ideale zu liefern, die bis dahin das religiöse Denken motiviert hatten, etwa die Idee der Gleichheit, der Gemeinschaft und der menschlichen Entfaltung?

Für Crisóstomo de Souza liege das Problem des historischen Materialismus nicht gerade in seinem religiösen Ursprung (was ein genetischer Trugschluss wäre), sondern in der schweren metaphysischen Belastung, die er mit sich bringt, und in den schädlichen Konsequenzen nicht nur für die Theorie, sondern auch für die politische Praxis. Und zwar nicht nur in der Vergangenheit, wie wir auf tragische Weise beim Aufbau des Realsozialismus gesehen haben, etwa bei der Hypostase des Staates, der Dominanz einer bürokratischen Elite und der Leugnung der Individualität, sondern auch in der Gegenwart, sei es in Form einer pessimistischen und lähmenden kritischen Theorie oder einer moralistischen Auffassung von Ungleichheiten in der Theorie und Politik der Identitätsbewegungen.

3.

Um zu verstehen, wie dieser Ursprung bei Marx zu finden ist, ist es notwendig, die drei Aspekte zu verstehen, in denen seine Philosophie von metaphysischen Annahmen abhängig blieb. Für Crisóstomo de Souza sind dies die ontologischen, epistemologischen und normativen Aspekte.

Aus ontologischer Sicht würde Marx immer noch ein Substantialist, Essentialist und Dualist bleiben; aus erkenntnistheoretischer Sicht bliebe es mentalistisch, repräsentationalistisch und korrespondentiell, Themen, die in seinem Artikel „A World of Our Own“ ausführlicher behandelt werden.[1] Aus normativer Sicht wäre er einem historisch-transzendentalen Essentialismus verpflichtet: Er würde die Umsetzung des Kommunismus als eine Form des kategorischen Imperativs betrachten, als ein Handlungsprinzip, das zugleich die Vollendung und Verwirklichung der Ideale des Christentums bedeuten würde.

Crisóstomo de Souzas Kritik an Marx beschränkt sich daher nicht wie üblich auf Determinismus, Teleologie und Dogmatismus, sondern erstreckt sich auf die Gesamtheit seiner metaphysischen Matrix, die aus dem Versuch der Posthegelianer zur Überwindung der Religion hervorgegangen ist. Als Konsequenz bleiben Dualismen bestehen, wie etwa die Unterscheidung zwischen dem zu verwirklichenden menschlichen Wesen und seiner Existenz als unvollkommen und gespalten, sowie die Idee der Wirklichkeit als einer spinozistischen Substanz, in der Individuen tatsächlich nur als Teil dieser einzigartigen Substanz existieren, und schließlich die Trennung zwischen einer Scheinwelt und einer wirklichen Welt, die nur durch die Vernunft erreicht und verstanden werden kann.

Diese Annahmen, sagt der Autor, sind die Grundlage von Konzepten wie Entfremdung, Verdinglichung, Warenfetisch, Ideologie als falsches Bewusstsein usw. In der Praxis werden diese Konzepte Ideen hervorbringen, die den Grund für die Defizite zeitgenössischer linker Projekte darstellen. Dazu zählen etwa die Vorstellung einer intellektuellen Elite, die das wahre Bewusstsein der Individuen definiert, die Idealisierung einer vorkapitalistischen Welt, die Immobilisierung aufgrund des Fehlens vorausgesetzter Handlungsbedingungen und die Kritik an der liberalen Demokratie als einem ideologischen und illusionären Konstrukt.

Diese Konzeptionen sind eine „Kehrseite“ von Marx im doppelten Sinne des Wortes: das Gegenteil von dem, was er als Theorie und politische Praxis aufbauen wollte und zugleich eine Konsequenz der unsichtbaren Seite seines historischen Materialismus.

Von den dargelegten Problemen scheint unserem Autor das normative Problem den entscheidendsten Schaden für die Theorie und politische Praxis unserer Tage verursacht zu haben: Die Pflicht zur menschlichen Verwirklichung durch das Kriterium eines generischen, metaphysischen und transzendenten Wesens sei der Ursprung der Mängel der kritischen Theorie und der Identitätspolitik poststrukturalistischen Ursprungs, die noch mehr als Marx die Hauptgegner von Crisóstomo de Souza sind.

Schließlich kann man seiner Ansicht nach etwas von Marx nutzen, um seinen praktisch-sensiblen materialistischen Standpunkt aufzubauen, während die kritische Theorie a la Theodor Adorno und der Poststrukturalismus a la Michel Foucault werden als Möglichkeiten einer emanzipatorischen Politik gänzlich verworfen. Abschließend ist es wichtig zu klären, wie das von Marx eingeschmuggelte metaphysische, theologische und mystische Gepäck des Menschen als generisches Gemeinschaftswesen zu einer pessimistischen und negativen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft der sogenannten Frankfurter Schule und zu einem antihumanistischen, antisubjektivistischen und antinormativen Standpunkt des Poststrukturalismus führen würde.

4.

Meiner Ansicht nach hat die Kritik von Crisóstomo de Souza zwei zentrale Punkte. Erstens der normative Aspekt der Marxschen Philosophie, der zugleich verborgen und offengelegt wird: Die Pflicht zur Kritik und Umgestaltung der Gesellschaft durch den Kommunismus setzt, obwohl sie nicht zum Ausdruck kommt, eine Reihe von Werten voraus, die als höherwertig angesehen werden, wie etwa Gleichheit und Nichtausbeutung, und bewertet Arbeitsteilung und Privateigentum negativ.

So weit, ist es gut. Das größte Problem besteht darin, dass dies auf einem essentialistischen Verständnis davon basieren würde, was der Mensch sein sollte. Laut Crisóstomo de Souza wurde dieser Humanismus, der „auf den tugendhaftesten menschlichen Eigenschaften“ beruhte, „zum wesentlichen Bestandteil der späteren Kritischen Theorie, die als Frankfurter Theorie bekannt wurde“ (S. 241). Ebenso wird die Zuschreibung eines ideologischen Charakters jedem Gedanken zugeschrieben, der nicht mit dieser menschlichen Idealisierung übereinstimmt, und zwar als Erbe der kritischen Theorie angesehen.

Für Crisóstomo de Souza schließlich war es Marx, der seine Leser davon überzeugen konnte, dass das „moralisch Vorgeschriebene“ in eine Wirklichkeit „materiell eingeschrieben“ sei, die nur eine Theorie enthüllen könne, die über dem allgemeinen Bewusstsein stehe (S. 247). Da dieses Gattungswesen seinem Wesen nach kommunitaristisch ist und dem atomistischen Individualismus der modernen liberalen Welt eine Abneigung entgegenbringt, ist dieser Antimodernismus für unseren Autor der Treibstoff des Frankfurter Pessimismus und der identitätsbasierten Hingabe an jede Stammes-, Natur- und nicht-westliche soziale Organisation.

Die poststrukturalistische Kritik wiederum wäre der linguistische Ersatz für den metaphysischen Dualismus zwischen dem Realen (Produktionsverhältnisse) und dem Falschen (Ideologie), als Infrastruktur und Überbau, der bereits die Idee einer von der Individualität empirischer Subjekte unabhängigen Determinationsstruktur propagiert.

Bei Michel Foucault, dem privilegierten Erzfeind von Crisóstomo de Souza, stellt sich dies als Enthüllung der Machtverhältnisse, des dem Strukturalismus innewohnenden Antihumanismus und der Fragmentierung des Klassenkampfs als Kampf zwischen Identitätsminderheiten (als einer Verbreitung kleiner Proletariate) dar. All diese Verhältnisse werden, wenn auch nur kapillar, durch Unterdrücker-Unterdrückten-Beziehungen bestimmt, sind aber letztlich durch unterdrückerische Normen formatiert, die ihren Ursprung in den Strukturen der Moderne haben, und zwar durch Kuhni-Canguilhemsche Intuitionen, die in ein Kantsches Vokabular der linguistisch (diskursiv) verstandenen Möglichkeitsbedingungen übersetzt werden.

All dies mag wie eine Vulgata der kritischen Theorie und des Poststrukturalismus erscheinen. Auf diesen Einwand antwortet unser Autor, dass es sich zwar möglicherweise um eine Vulgata handele, diese aber auf dem Original beruhe. Wie jede Karikatur wäre es lediglich eine Übertreibung der auffälligsten Merkmale. Nicht dass Crisóstomo de Souza nicht auch eine gewisse positive Bilanz dieser Unternehmungen ziehen würde, vor allem im Bereich der kritischen Theorie, deren schärfster Einwand sich eher auf die erste Generation der Frankfurter Schule zu beziehen scheint, die später eine vielversprechendere Entwicklung erfahren sollte.

In jedem Fall sind für ihn Kritische Theorie und Poststrukturalismus nicht die besten Lösungen für eine emanzipatorische politische Theorie und politisches Handeln, insbesondere im Kontext Brasiliens, eines semiperipheren Landes im globalen Süden, das vor enormen Herausforderungen steht, die nur durch eine nichtkolonialisierte Theorie bewältigt werden können, die es versteht, aus der sozialen, internationalen und brasilianischen Theorie das herauszufiltern, was tatsächlich noch konzeptionell fruchtbar und politisch transformativ ist.

All dies macht deutlich, wie O Kehrseite von Marx sollte nicht nur als eine fachspezifische und gelehrte Diskussion des Autors von Die Hauptstadt – was es auch ist –, sondern als theoretische und politische Position, die eine Alternative zu den derzeit im progressiven Feld präsentierten Vorschlägen darstellen möchte. Daher muss dieses Buch, insbesondere seine umstrittensten Thesen, im breiteren Kontext des Programms der pragmatischen Poetik verstanden werden, das neben seinen Vorschlägen wie der Ausarbeitung eines materiellen Begriffs der Staatsbürgerschaft und der Übernahme des institutionellen Konstruktivismus auch seine eigene Kritik am Liberalismus und den Sackgassen der Linken enthält.

Dieser propositionale Hintergrund, der die Kritik belebt, die in Das Gegenteil von Marx, wurde von Crisóstomo de Souza auf verschiedene Weise, sei es durch akademische Arbeiten oder öffentliche Interventionen, nachdrücklich verteidigt.

*André Itaparica ist Professor für Philosophie an der Universität Reconcavo Baiano (UFRB).

Referenz


José Crisóstomo de Souza. Das Gegenteil von Marx: Philosophische Gespräche für eine Philosophie mit Zukunft. Atelier de Humanidades, 2024, 276 Seiten. [https://amzn.to/3X1Hevw]

Hinweis:


[1] Vgl. Erkenntnis, v. 12, nr. 2, 2015.


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