von SLAVEJ ŽIŽEK*
Die materielle Macht der Ideologie täuscht uns schon dadurch, dass sie uns vor Täuschung warnt.
Sowohl diejenigen, die die Covid-Impfungen akzeptieren, als auch diejenigen, die sie ablehnen, betrachten die gegnerische Gruppe als Lämmer, die aus freien Stücken auf den Schlachthof zulaufen. Vielleicht ist beides richtig. Doch wer gefälschte Impfbescheinigungen kauft, bezahlt den Schlächter.
Griechische Medien enthüllten letzten Monat einen betrügerischen Plan, an dem angeblich Tausende beteiligt waren Anti-Vaxxer und Hunderte von Ärzten. Wer sich nicht gegen Covid impfen lassen wollte, aber offenbar dennoch die Beschränkungen für Ungeimpfte vermeiden wollte, zahlte den Ärzten für die Impfung mit „Wasser“ eine Gebühr von rund 400 Euro.
Die an dem Plan beteiligten Ärzte würden sie jedoch bald täuschen, indem sie den echten Inhalt durch die „gefälschte“ Flüssigkeit ersetzten und den Impfstoff tatsächlich ohne diese injizierten Anti-Vaxxer wusste. Die Ärzte – ethisch und korrupt zugleich – würden das Bestechungsgeld trotzdem annehmen. Und in einer urkomischen letzten Wendung: die Anti-Vaxxer „heimlich“ Geimpfte würden natürlich mit den Nebenwirkungen des Impfstoffs konfrontiert sein und diese anderen schildern, ohne jedoch erklären zu können, wie oder warum sie auftreten.
Obwohl ich die Ärzte verurteile, die an diesem Betrug beteiligt waren, kann ich sie nicht hart genug verurteilen. Immerhin, wenn sie die Dokumente ausgestellt haben, die die Impfung bestätigen Anti-VaxxerSie haben nicht geschummelt: Es war wirklich passiert. Am Ende wurden nur diejenigen ausgetrickst, die betrügen und die Vorteile der Impfung genießen wollten, ohne eine Dosis zu bekommen. Solche Menschen wurden also durch die Wahrheit selbst getäuscht. Sie wussten einfach nicht, dass sie genau das waren, was sie vorgaben: geimpft.
Liegt das Problem also darin, dass die Ärzte nicht nur ihre Patienten belügten, sondern auch die Bestechungsgelder einsteckten? Selbst hier können wir sagen, dass ihre Patienten vermuten würden, dass sie nicht wirklich ungeimpft sind, wenn sie das Geld nicht nehmen würden. Das eigentliche ethische Problem liegt darin, dass Patienten gegen ihren ausdrücklichen Willen geimpft wurden – was ich in dieser Situation nur als geringfügigen Verstoß betrachte, da es sich dabei um Betrug und die Erlangung der Covid-Impfpässe handelte. Aus diesem Grund stellten sie nicht nur eine Bedrohung für sich selbst, sondern auch für andere dar.
Viele Impfgegner argumentieren, dass eine Impfpflicht nicht nur ein Angriff auf unsere individuelle Entscheidungsfreiheit sei, sondern auch ein gewaltsamer körperlicher Eingriff, vergleichbar mit einer Vergewaltigung: Wenn ich geimpft werde, werde ich von der Öffentlichkeit vergewaltigt, nicht nur von einem Arzt Autorität… Als ob unser Körper wirklich nur uns gehörte.
Kürzlich gab es in Slowenien den Fall einer älteren Frau, die langsam in einem Krankenhaus starb, nicht mehr essen konnte und mit sechs oder sieben gleichzeitigen Infusionen überlebte. Als ihr der Impfstoff angeboten wurde, lehnte sie ihn entschieden ab und sagte, sie kenne den Inhalt nicht und wolle nicht, dass fremde Substanzen in ihren Körper gelangen.
Aber wäre das nicht die Situation, der wir alle ausgesetzt sind? Ob geimpft oder nicht, werden wir nicht bereits auf uns unbekannte Weise kontrolliert und manipuliert?
Das wirklich Interessante an der griechischen Anekdote – ob sie nun wahr ist oder nicht – ist, dass sie wie eine funktioniert Beispiel Im Sinne von Pierre Bayard wird die Art und Weise, wie wir kontrolliert und manipuliert werden, in einer reinen Form dargestellt, die in der sozialen Realität selten zu finden ist. Gerade wenn wir denken, wir hätten die Behörden getäuscht, ist unser Betrug bereits in deren Selbstreproduktionszyklus enthalten. In gewisser Weise geht es uns schlechter als dem Lamm im Schlachthof: Wir verhalten uns wie kleine Lämmer, die bereitwillig für ihre eigene Schlachtung bezahlen.
Wie Lacan sagte: Les non-dupes irren: Nicht-Dummköpfe machen mehr Fehler, wie weiße Amerikaner der Unterschicht, die sich nicht vom liberalen Establishment täuschen ließen, sondern am Ende für Donald Trump gestimmt haben.
Es sollte auch beachtet werden, dass die „Lämmer zur Schlachtbank“-Logik für beide Seiten dieses Konflikts gilt. Für Skeptiker sind die Lämmer die Menschen, die Schlange standen, um den Impfstoff zu bekommen, oder, als es schwierig war, Dosen zu finden, sogar Ärzte bestochen haben, sich impfen zu lassen. Für andere sind die Lämmer die Leugner, die durch ihre Weigerung, bei den Pandemiebeschränkungen mitzuarbeiten, eine Bedrohung für ihr eigenes Leben und das Leben anderer Menschen darstellen.
Man hört oft, dass Proteste gegen den Impfstoff mehr sind als eine Demonstration wissenschaftlicher Irrationalität: Sie verdichten eine Reihe anderer Unzufriedenheiten, wie etwa das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, der Macht medizinischer Behörden und anderer Unternehmen unterworfen zu sein usw . Und deshalb sollten wir mit ihnen reden und sie nicht nur verachten.
Das Problem, das ich hier sehe, ist genau das gleiche wie beim Antisemitismus, der einen Protest gegen finanzielle Ausbeutung und dergleichen zum Ausdruck bringt. Auch im Falle von Gewalt gegen Frauen tun die Männer, die sie missbrauchen, dies oft, um die Frustration zu lindern, die sie ansammeln, wenn sie in ihrem sozialen Leben gedemütigt werden. Was in all diesen Fällen eine solch „wohlwollende“ und „umfassende“ Sichtweise zum Scheitern bringt, ist der übermäßige Genuss, der durch das fragliche Verhalten erzeugt wird: Die Brutalisierung von Frauen stellt offensichtlich einen perversen Genuss dar. Das Gleiche gilt für die Pogrome Antisemiten und Impfgegner-Verschwörungstheorien, die auch ihren eigenen perversen Spott erzeugen. Wir müssen dann die Lacansche Formel der psychoanalytischen Ethik – dass „das Einzige, woran man schuldig sein kann, ist, seinem Verlangen nachgegeben zu haben“ – ergänzen durch: Man ist immer schuldig/verantwortlich für sein Genießen, auch wenn es von außen auferlegt wird .
Darin liegt die materielle Macht der Ideologie: Sie erzieht uns nicht nur zur Toleranz gegenüber der Macht oder sogar zur aktiven Teilnahme an unserer eigenen Unterwerfung, sondern täuscht uns auch schon durch die Geste, uns vor Täuschung zu warnen. Es beruht nicht auf unserem Vertrauen in die öffentliche Ordnung und ihre Werte, sondern auf unserem Misstrauen – die zugrunde liegende Botschaft lautet: „Vertraue nicht denen, die an der Macht sind, du wirst manipuliert.“ Und so vermeiden Sie Betrug!„Manchmal ist Unschuld die beste Waffe gegen Betrug.
*Slavoj Žižek ist Professor am Institut für Soziologie und Philosophie der Universität Ljubljana (Slowenien). Autor, unter anderem von Das Jahr, in dem wir gefährlich geträumt haben (Boitempo).
Tradução: Daniel Pavan
Ursprünglich veröffentlicht am RT-Portal.
