von DENILSON LUÍS WERLE & RURION MELO*
Präsentation zur brasilianischen Ausgabe des Buches Jürgen Habermas
Jürgen Habermas‘ erster großer Klassiker, Strukturwandel im öffentlichen Raum, erschien ursprünglich im Jahr 1962. Genau dreißig Jahre vergingen, bis Jürgen Habermas 1992 mit einer weiteren Zeitdiagnose und anderen theoretisch-konzeptionellen Mitteln seine Reflexion über den öffentlichen Raum in dem Buch aktualisierte Faktizität und Gültigkeit, wo er eine komplexe diskursive Theorie von Recht und Demokratie entwickelte.
Entscheidende politische, kulturelle und technologische Veränderungen, die in einem Prozess des Aufstiegs und der Krise sowohl der Demokratie als auch des Neoliberalismus und insbesondere des Aufstiegs einer autoritären Rechten in verschiedenen Regionen des Planeten zum Ausdruck kamen, veranlassten Jürgen Habermas, im Jahr 2022 sein neuestes Buch zu veröffentlichen: Ein neuer Strukturwandel im öffentlichen Raum und in der deliberativen Politik. Die jüngste kritische Besorgnis weist zumindest eine Ähnlichkeit mit dem Klassiker von 1962 auf.
In beiden Fällen ist die Diagnose struktureller Veränderungen im öffentlichen Raum die Grundlage einer kritischen Theorie der Demokratie, die nicht nur darauf abzielt, das Emanzipationspotenzial aufzuzeigen, das im normativen Inhalt einer deliberativen Politik steckt, die mehr oder weniger in die Praktiken eingeschrieben ist Institutionen des demokratischen Rechtsstaates, sondern verstehen auch die Momente des Rückschritts und der Hindernisse vor dem Hintergrund der Krisen, mit denen moderne demokratische kapitalistische Gesellschaften konfrontiert sind. Denn „Demokratietheorie und Kapitalismuskritik gehören zusammen“ (S. 99).
Die Frage, die als Leitfaden für die Diagnose struktureller Veränderungen im öffentlichen Raum dient und die der kritischen Demokratietheorie von Jürgen Habermas zugrunde liegt, besteht in der Untersuchung der sozialen (materiellen und symbolischen) und institutionellen Bedingungen, die für die wirksame Umsetzung politischer Praktiken erforderlich sind Selbstbestimmung zwischen freien und gleichberechtigten Bürgern, die durch den öffentlichen Gebrauch ihrer Vernunft, das heißt durch Diskussion durch Vernunft, über verschiedene politische Fragen von gemeinsamem Interesse beraten und kollektive Entscheidungen treffen.
Hierbei geht es um theoretisch-erklärende Dimensionen der Diagnose der Gegenwart, aber auch um normative Dimensionen, wie der öffentliche Gebrauch von Vernunft zu verstehen ist – im Fall von Jürgen Habermas, was deliberative Politik ist. Und die Öffentlichkeit ist die zentrale Kategorie, um die Frage in ihren beiden Dimensionen zu beantworten.
Obwohl die Öffentlichkeit ein soziales Phänomen ist, das in modernen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften unterschiedliche Funktionen erfüllt – und das Werk von 1962 immer noch die ersten Grundlagen für sein Verständnis schafft –, wendet sich Jürgen Habermas in diesem Buch „der Funktion zu, die die Öffentlichkeit erfüllt, um das zu schützen Existenz der demokratischen Gemeinschaft“ (S. 28), konzentriert sich insbesondere auf die durch technologische Innovationen wie Social-Media-Plattformen und Big-Data-Erfassung veränderte Medienstruktur und deren Auswirkungen auf den politischen Prozess.
Die zentrale Idee dieser Analyse besteht darin, dass die Existenz einer demokratischen Gemeinschaft, ihre Entwicklung und relative Stabilität anhand der Standards ihrer öffentlichen Kommunikation bewertet werden können: Die Hypothese ist, dass je mehr die öffentliche Nutzung der Vernunft, also der Diskussion, erfolgt durch Gründe, frei, inklusiv und reflektierend, in deliberativen Praktiken und institutionalisierten Verfahren präsent ist, desto höher ist der Demokratisierungsgrad einer Gesellschaft.
Daher ist es kein Zufall, dass das Buch mit einer kurzen, aber wichtigen methodischen Betrachtung zum Verhältnis von normativer Theorie und empirischer Theorie beginnt, um Missverständnisse über die Bedeutung der Analyse des neuen Strukturwandels in der politischen Öffentlichkeit und seiner Folgen zu vermeiden . Konsequenzen für die Konzeption deliberativer Politik voller normativer Annahmen.
Wie Jürgen Habermas bereits bei anderen Gelegenheiten deutlich gemacht hat, handelt es sich dabei nicht um einen abstrakten und philosophisch naiven Gegensatz zwischen normativem Ideal und gesellschaftlicher Realität. Natürlich können wir eine Liste verschiedener Indikatoren für demokratische Verfahren erstellen (gleiche Freiheiten und individuelle Rechte, die alle Beteiligten einbeziehen, gleiche Kommunikationsrechte und Möglichkeiten zur politischen Teilhabe, freie Wahlen, Wettbewerbe zwischen Parteien, parlamentarische Komplexe, Mehrheitsprinzip, Wechsel von Macht usw.) und seine sozialen Grundlagen (Bildungsniveau, Indikatoren für menschliche Entwicklung und Wohlbefinden, Zugang zu grundlegender Sanitärversorgung, Wohnraum, Einkommens- und Vermögensverteilung usw.), um ein Demokratiekonzept empirisch zu operationalisieren und zu beurteilen, ob ein A ob sich die Gesellschaft einer idealen Demokratie nähert oder nicht.
Oder es lässt sich – wie Habermas selbst im vorliegenden Buch in Abschnitt 3 des ersten Essays tut – eine Reihe wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Bedingungen beurteilen, die erfüllt sein müssen, damit die Öffentlichkeit ihre entscheidenden Funktionen in der deliberativen Politik wahrnehmen kann kapitalistische Demokratien in die Krise.
Dies sind zweifellos wichtige Kriterien, die auf problematische Situationen und Defizite in einer demokratischen Gesellschaft hinweisen, sie erlauben jedoch keinen realistischen Ansatz, die günstigen Konstellationen und Hindernisse zu erfassen, die der Verwirklichung bereits in Institutionen verankerter und wirksamer Rationalisierungspotentiale entgegenstehen in der Gesellschaft. „Deshalb ist […] deliberative Politik kein hohes Ideal, an dem wir die dürftige Realität messen müssten, sondern vielmehr in pluralistischen Gesellschaften eine Voraussetzung für die Existenz einer Demokratie, die diesen Namen verdient.“ (S. 36)
Demokratische Theorie muss rekonstruktiv agieren, ausgehend vom rationalen Gehalt von Normen und Praktiken, die in demokratischen Rechtsstaaten positive Gültigkeit erlangen und deren idealisierende normative Annahmen teilweise in die gesellschaftliche Praxis und das Bewusstsein der Bürger eingeschrieben sind. In diesem Sinne „muss sich eine Demokratietheorie also nicht der Aufgabe unterwerfen, die Prinzipien einer gerechten politischen Ordnung in sich selbst zu formulieren, also zu konstruieren und zu begründen, um sie den Bürgern pädagogisch greifbar zu machen; mit anderen Worten, es muss nicht als normativ projizierte Theorie verstanden werden. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, solche Prinzipien auf der Grundlage des geltenden Rechts und der jeweiligen intuitiven Erwartungen und Legitimitätsvorstellungen der Bürger rational zu rekonstruieren“ (S. 35).
Eine der zentralen Achsen der Analyse von Neuer Strukturwandel im öffentlichen Raum, in dem sich Jürgen Habermas verstärkt mit dem Internet und den sozialen Medien befasst, um die spezifischen Veränderungen in der Struktur öffentlicher Kommunikation zu erklären und einige Hypothesen über deren Auswirkungen auf die politische Funktion des öffentlichen Raums zu entwickeln, besteht gerade darin, die Beziehungen zwischen dem Neuen zu sehen Gestaltung des demokratischen Lebens, gefördert durch Veränderungen im Kommunikationsmuster und in der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit durch die Bürger.
Es lässt sich nicht leugnen, dass der Einzug der Informations- und Kommunikationstechnologien zu einem groß angelegten „Strukturwandel“ geführt hat. Doch welche Folgen hat der technologische Fortschritt der digitalisierten Kommunikation schließlich für den politischen Prozess?
Die Antwort auf diese Frage variierte in den letzten Jahrzehnten zwischen optimistischen Perspektiven (die emanzipatorische Aspekte und demokratische Möglichkeiten digitalisierter Gesellschaften hervorhoben, wie z. B. die Verbreitung von Informationen, die Ermächtigung der Nutzer und den Gewinn an Autonomie, Dezentralisierung und Horizontalität in Formen politischer Selbstorganisation). und Mobilisierung der Bürger) und Pessimisten (die Merkmale wie Fragmentierung und Isolation, Kommerzialisierung, populistische Manipulation und Verbreitung von hervorhoben). gefälschte Nachrichten, algorithmische Kontrolle usw., die in einer privatistischen Tendenz zur Entpolitisierung gipfeln).
Jürgen Habermas erkennt einerseits an, dass das Internet die Mittel zur Verwirklichung des Versprechens der Einbeziehung aller Beteiligten in die deliberativen Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung verbessern könnte. Allerdings, so die im Buch dargelegte umfassendere Diagnose, habe der neue Strukturwandel im öffentlichen Raum durch den technologischen Fortschritt der digitalisierten Kommunikation nicht stärker zur Steigerung der diskursiven Qualität von Beratungen beigetragen. Ganz im Gegenteil. „Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute zumindest teilweise von den wilden Geräuschen in fragmentierten Echokammern übertönt, die um sich selbst kreisen“ (S. 61).
Das Buch möchte zu einer kritischen Reflexion über das demokratische Potenzial des Internets und der sozialen Medien beitragen, indem es einen ambivalenten Prozess beleuchtet. Wenn die digitalisierte Kommunikation die Beschränkungen traditioneller Massenmedien überwand, die immer von mächtigen Konglomeraten auf dem Kommunikationsmarkt geschützt wurden und nationale Grenzen überschritt, ging dieser umfassendere Charakter auch mit einer radikalen Fragmentierung kommunikativer Interaktionen einher, was sie schwieriger machte als die Bildung von Meinungen, die jetzt von selbständigen Gruppen vertreten und in einem Plattformformat organisiert werden, könnten zum gesamten demokratischen Prozess beitragen.
Die „Gefahr der Fragmentierung der Öffentlichkeit, die gleichzeitig mit einer Öffentlichkeit ohne Grenzen einhergeht“, führe letztlich zur Bildung von „dogmatisch voneinander isolierten Kommunikationskreisläufen“ (S. 62). Mit anderen Worten: Der neue Strukturwandel im öffentlichen Raum weist immanente und gleichzeitige Tendenzen sowohl der Auflösung seiner Grenzen als auch der Fragmentierung der politischen Meinungs- und Willensbildung auf.
Obwohl Jürgen Habermas das deliberative Potenzial neuer Technologien nicht kategorisch bestreitet, befürchtet er, dass sie aufgrund ihrer breiten Nutzung durch einen erheblichen Teil der Bevölkerung und aufgrund des Drucks, den sie auf traditionelle Medien ausüben, tiefgreifende Auswirkungen haben die Wahrnehmung des öffentlichen Raums und gefährden eine der wichtigen Annahmen für den deliberativen Prozess einer diskursiven öffentlichen Meinungs- und Entscheidungsbildung.
Dabei kommt den traditionellen Medien eine wichtige Rolle zu als „einer Vermittlungsinstanz, die in der Vielfalt der Perspektiven auf gesellschaftliche Lebenssituationen und kulturelle Lebensformen einen intersubjektiv geteilten Deutungskern zwischen konkurrierenden Weltanschauungen herausarbeitet und für dessen rationale Akzeptanz in der Allgemeinheit sorgt“ (S. 69). Natürlich geht es nicht darum, sie als ultimativen Garanten der Objektivität der Welt zu sehen, noch darum, die Präsenz der Wirtschaftsmacht, ihre selektiven Manipulations- und Ausgrenzungsstrategien außer Acht zu lassen, sondern darum, die traditionellen Medien „mit ihrem Informationsfluss“ anzuerkennen und täglich erneuerten Interpretationen bestätigt, korrigiert und ergänzt das vage Alltagsbild einer als objektiv angenommenen Welt, von der mehr oder weniger alle Zeitgenossen annehmen, dass sie auch von allen anderen als die ‚normale‘ oder gültige Welt akzeptiert wird“ (S. 70).
Unter anderem ist es diese Annahme einer gemeinsamen objektiven Welt und damit einer gemeinsamen politischen Agenda, die durch neue Kommunikationstechnologien in Frage gestellt wird, die derzeit öffentliche Räume fragmentieren und auflösen: Digitale Plattformen fungieren als „Echokammern“ bzw soziale Blasen für gleichgesinnte „Follower“, die sich von denen mit dissonanten Meinungen isolieren.
Die Neuartigkeit dieser Trends ergibt sich aus der Tatsache, dass der technologische Fortschritt der digitalisierten Kommunikation gezielt durch einen umfassenden Prozess der „Plattformisierung des öffentlichen Raums“ konstruiert wurde. Und dies hat dazu geführt, dass das Konsumpublikum traditioneller Massenmedien nunmehr in die Rolle des Urhebers kommunikativer Medien mit großem Verbreitungspotenzial schlüpft.
Für Jürgen Habermas verändern soziale Medien die Kommunikationsmuster radikal, denn „sie ermöglichen grundsätzlich allen potenziellen Nutzern, unabhängige und gleichberechtigte Autoren zu sein.“ „Neue“ Medien unterscheiden sich von traditionellen Medien dadurch, dass digitale Unternehmen diese Technologie nutzen, um potenziellen Nutzern unbegrenzte digitale Vernetzungsmöglichkeiten zu bieten, als wären sie leere Tafeln für die Präsentation ihrer eigenen kommunikativen Inhalte“ (S. 59). Obwohl neue Technologien grundsätzlich die Autonomie der Mediennutzer stärken, wurden sie von großen, quasi-monopolistischen Unternehmen gekapert, die sie in erster Linie dazu konzipieren und verwalten, um Daten über Nutzer als Grundlage für neue Formen der kapitalistischen Akkumulation zu sammeln.
Zeitgenössische soziale Medien in Unternehmen laden zur Ausbreitung hart umkämpfter, manchmal antagonistischer Online-„Gemeinschaften“ ein, die sich auf widersprüchliche und wahrscheinlich unpassende epistemische Standards stützen. „Diese neuen Realmedien bestehen aus Unternehmen, die den Geboten des Kapitalzuwachses gehorchen und gemessen an ihrem Marktwert zu den ‚wertvollsten‘ Unternehmen der Welt gehören“ (S. 68).
Dies bedeutet, dass die „Entpolitisierungstendenzen“, die durch die Verknüpfung von Politik und Unterhaltung hervorgerufen werden, heutzutage mithilfe sozialer Medien viel intensiver werden. Die Plattformisierung einer Öffentlichkeit, die von Machtverhältnissen und Kapitalverwertungszwängen durchdrungen ist, befähigt die Nutzer einerseits zur inklusiven und fragmentarischen Teilhabe an der digitalisierten Kommunikation und schafft andererseits die Voraussetzungen dafür, dass diese Teilhabe zur „Selbstbestätigung und Inszenierung von Narzissmus“ wird die Besonderheiten“ der Betroffenen.
Daher veränderten soziale Medien die Wahrnehmung des öffentlichen Raums in beträchtlichen Teilen der Bevölkerung und veränderten die inklusive Bedeutung, die ihn definierte, sowie die Forderung nach einer Universalisierung der Interessen, die alle Bürger abdecken könnte. Mit diesem neuen Strukturwandel sehen wir die Tendenz einer Öffentlichkeit, die sich von der traditionellen Wahrnehmung der Politik selbst abwendet. Allerdings geschieht dies, so Jürgen Habermas, nicht kritisch und führe aus seiner Sicht auch nicht deutlicher zu einer Vertiefung der Demokratie.
Dieser Prozess hat zur Herausbildung einer „halböffentlichen Sphäre“ geführt, die auf der Repräsentationsfunktion einer stark fragmentierten „Gesellschaft der Singularitäten“ beruht, deren Loyalität sich nur bei ihren eigenen Rezipienten widerspiegelt: „In der begrenzten Perspektive dieser Art von halböffentlicher Bereich [Halböffentlichkeit] kann die politische Öffentlichkeit demokratischer Rechtsstaaten nicht länger als inklusiver Raum für eine mögliche diskursive Klärung von Wahrheitsansprüchen und der universalen Berücksichtigung konkurrierender Interessen wahrgenommen werden; Gerade diese öffentliche Sphäre entsteht als inklusiv, die dann in gleichberechtigt konkurrierende halböffentliche Sphären verbannt wird“ (S. 77).
In der Logik dieser halböffentlichen Sphären unterliegen Themen und Beiträge keiner diskursiven Vorabkritik. Vor allem, weil der Zweck digitalisierter Kommunikation dabei nicht grundsätzlich darin besteht, eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung zu ermöglichen. Auch wenn Jürgen Habermas die Besetzung sozialer Medien durch Akteure, denen es um eine demokratische Qualifizierung öffentlicher Meinungsbildung geht, nicht ausschließt, stellt das technologische Format digitalisierter Kommunikation Hürden für das demokratische Potenzial der Medien dar.
Dabei geht es weniger darum, über den Wahrheitsgehalt objektiver Aussagen oder Kriterien normativer Richtigkeit zu debattieren, sondern vielmehr darum, ideologisch überzeugende Meinungen in der eigenen fragmentierten Öffentlichkeit zu stärken – auch wenn dies auf der Verbreitung von Meinungen beruht gefälschte Nachrichten. Das Prinzip der Inklusivität führt nicht zur Universalisierung der Meinungsbildung in deliberativen Prozessen, die sich auf Themen konzentrieren, die alle Bürger gemeinsam betreffen, sondern vielmehr zur Anerkennung und Akzeptanz durch die Rezipienten, die diese Öffentlichkeit selbst bilden. Für solche Nutzer spielen daher objektive Kriterien hinsichtlich der Wahrheit von Aussagen oder der normativen Richtigkeit gängiger Normen keine Rolle, da „Fälschung nNachrichten sie sind aus Sicht der Beteiligten nicht mehr als solche erkennbar“ (S. 78).
Daher tendiert die auf Echo bei Rezipienten in halböffentlichen Sphären ausgerichtete digitalisierte Kommunikation tendenziell zu einer generalisierten Deformation der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit. Und wenn dadurch einerseits die Gefahr privatistischer Entpolitisierungstendenzen steigt, so hat andererseits die Herausbildung halböffentlicher Sphären, wenn man die Diagnose der Gegenwart versteht, eine deutliche politische Kraft. Soziale Medien spielen eine entscheidende Rolle bei den Mobilisierungen und Auseinandersetzungen unserer zunehmend digitalisierten Gesellschaft, insbesondere wenn wir uns dem Aufkommen des Rechtspopulismus zuwenden.
Jürgen Habermas geht es darum, seine Überlegungen zum technologischen Fortschritt digitaler Kommunikation, insbesondere im Hinblick auf die „Plattformisierung des öffentlichen Raums“, um miteinander verknüpfte Trends zu ergänzen, die für das Verständnis der Entstehung neuer rechtspopulistischer Bewegungen von grundlegender Bedeutung sind. Und hier aktualisiert er seine Position in Bezug auf eine zentrale Idee: die schwierige Vereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie. Heutzutage wird jeder Versuch, Kompromisse zwischen Kapitalismus und Demokratie aufrechtzuerhalten, wie sie in den Industrieländern in der Nachkriegszeit etabliert wurden, durch den Neoliberalismus und die wirtschaftliche Globalisierung stark untergraben.
Dies sind strukturelle Voraussetzungen für die Bildung einer systemfeindlichen politischen Kultur, da immer mehr Bürger in gleichem Maße sozial ausgegrenzt werden, wie Regierungen es versäumen, effektiv auf die Präferenzen und Interessen ihrer Wähler einzugehen, was eine Krise der Demokratie verschärft Legitimität mit weitreichenden Konsequenzen für eine politische Öffentlichkeit. Und genau das ermöglicht die Entstehung eines „Populismus der Ausgeschlossenen“, der radikalisierte Bürger anheizt und ihre Angriffe auf das politische System mit sozialen Medien verstärkt.
Nun führen die durch die aktuelle Krise des Neoliberalismus verursachten Bedingungen, da es sozusagen aufeinanderfolgende Misserfolge bei dem Versuch, den Kapitalismus zu domestizieren, nicht nur zu sozialer Ungleichheit, sondern auch zu einer schweren Krise der Demokratien. Vor allem, wenn wir an die Privatisierungstendenzen der Entpolitisierung denken. Und an dieser Stelle bekräftigt Jürgen Habermas erneut seine Art, eine kritische Demokratietheorie zu begründen, ohne auf bloße Unterscheidungen zwischen normativen Idealen und empirischen Realitäten zurückgreifen zu müssen.
Im Rahmen von Faktizität und GültigkeitMit der Verteidigung einer radikalen Demokratie war eine Diagnose sozialer Kämpfe verbunden, die auf eine Vertiefung der Demokratie abzielten und deren praktische Gründe sich aus dem normativen Gehalt der rechtspolitischen Grammatik des deliberativen Kerns einer Machtzirkulation in Sphären intrinsisch rekonstruieren ließen Öffentlichkeit (informell und formell) eines rechtsstaatlichen politischen Prozesses.
Dreißig Jahre später zeigt Jürgen Habermas größere Bedenken hinsichtlich der Verwurzelung dieser normativen Voraussetzungen in wirksamen politischen Prozessen. Denn „die Zeichen des politischen Rückschritts sind heute mit bloßem Auge sichtbar“ (S. 56). Ist es möglich, dass sich die Bürger im Zuge eines neuen Strukturwandels im öffentlichen Raum weiterhin mit dem demokratischen Spiel identifizieren können? Für den Autor verstärkten Klima- und Migrationskrisen, eine globale Pandemie und ein Krieg, der die größten Weltmächte in Mitleidenschaft ziehen könnte, Zwänge global deregulierter Märkte, also Veränderungen in der globalen wirtschaftlichen und politischen Lage, die Angst vor einem unkontrollierten gesellschaftlichen Abstieg Angesichts wachsender Einkommens- und Vermögensunterschiede, prekärer Arbeitsverhältnisse und Lebensbedingungen wurde der Grundstein für Entpolitisierungstendenzen mit dramatischen Folgen für die Demokratie gelegt.
Das gravierendste Problem besteht laut Jürgen Habermas darin, dass diejenigen, die den Glauben an die Demokratie verlieren, zur leichten Zielscheibe für Rechtspopulisten werden, die ihren Frust und das daraus resultierende demokratiefeindliche Potenzial ausnutzen. Der mit bloßem Auge sichtbare politische Rückschritt lässt sich an jüngsten Ereignissen ablesen, etwa an der Invasion des Kapitols am 6. Januar 2021, als Donald Trump in der Wut radikalisierter Bürger Widerhall fand – oder an dem versuchten zivil-militärischen Putsch Ereignete sich am 8. Januar 2023 in Brasilien, als glühende Anhänger von Jair Bolsonaro den Praça dos Três Poderes stürmten und behaupteten, sie würden das legitime Ergebnis der demokratischen Wahlen, die Lula im selben Jahr zur Präsidentschaft führten, nicht anerkennen.
Anschließend lädt uns das Buch zu einer sehr aktuellen Reflexion über die Herausforderungen deliberativer Politik angesichts neuer Informationstechnologien und sozialer Medien ein, die es uns im gegenwärtigen Kontext ermöglichen, das Spiel antidemokratischer und autoritärer Populisten zu spielen. Denn die neue Medienstruktur, die durch die „Plattformisierung des öffentlichen Raums“ konfiguriert wurde, erreichte letztlich verfassungsmäßige demokratische Imperative und verzerrte den rational inklusiven und deliberativen Charakter der gemeinsamen öffentlichen Meinungs- und Willensbildung.
Die „postfaktische Demokratie“, die sich während der Trump-Regierung erschreckend normalisiert hat, verkauft effektiv Desinformationen und übertriebene Verschwörungstheorien (wie im Fall von Anti-Corona- und Anti-Impfstoff-Demonstrationen) und verbreitet sie gefälschte Nachrichten und gleichzeitig gegen die „Lügenpresse“ kämpfen. Wie er genau beobachtet, werden die Mainstream-Medien zunehmend durch den Marktdruck gezwungen, die scheinbar inklusiven und nicht hierarchischen, aber im Grunde profitablen und korporativ geprägten sozialen Medien zu imitieren. Dieser Trend, der von undemokratischen Regierungen scharfsinnig ausgenutzt wird, untergräbt langfristig die Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für Nachrichten und politische Diskussionen von gemeinsamem Interesse.
Es geht absolut nicht darum, davon auszugehen, dass die Bürger des Staates durch soziale Medien zu passiven Marionetten populistischer Strategien werden. Habermas vermeidet jede Art von technologischem Determinismus oder Mangel an politischer Handlungsfähigkeit (womit er sich gegen die These der „Entmündigung der Mediennutzer“ wendet). Allerdings müssen die Ambivalenzen der politischen Praxis von Meinungs- und Willensbildungsteilnehmern in einer von wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht durchzogenen Öffentlichkeit, die sich im Format sozialer Blasen oder „Kommunikationsinseln“ reproduziert, berücksichtigt werden zutiefst geklärt: Es geht darum, den dynamischen Prozess zu verstehen, in dem Bürger zwischen der Rolle von Urhebern eines gleichermaßen uneingeschränkten und äußerst fragmentierten Kommunikationskreislaufs einerseits und der Rolle von Konsumenten, die sich weitgehend in dessen Rolle versetzen, hin- und herpendeln Verfügung über die Strategien des Medienmarktes andererseits.
Eine kritische Theorie, die sich mit der Diagnose der Krise der Demokratie befasst, muss die komplexe Wirkungsweise der politischen Praxis der Bürger als Nutzer sozialer Medien angemessen erfassen. Habermas möchte mit diesem Buch einen Beitrag zu einer sehr intensiven und reichhaltigen Debatte leisten, ohne sie in irgendeiner Weise erschöpfen zu wollen, ohne jedoch den Blick auf die Frage zu richten, auf welche Weise das emanzipatorische Versprechen einer… Die radikale Demokratie könnte neben der Plattformisierung des öffentlichen Raums in zunehmend digitalisierten Gesellschaften aufrechterhalten werden.
Es geht darum, Forschungshypothesen erneut aufzustellen, die helfen, die Frage zu beantworten, die Jürgen Habermas‘ Überlegungen zu den Zusammenhängen von Moral, Politik und Recht geleitet hat: Wie ist es möglich, unsere politische Handlungsfähigkeit, also die bewusste Gestaltung unseres Lebens, auf den neuesten Stand zu bringen? Praktiken politischer Selbstbestimmung und Selbstverwaltung durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft im Kontext pluraler und komplexer krisenanfälliger demokratischer Gesellschaften?
*Denilson Luís Werle ist Professor am Fachbereich Philosophie der Federal University of Santa Catarina (UFSC).
*Rurium Melo ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität São Paulo (USP).
Referenz
Jürgen Habermas. Ein neuer Strukturwandel im öffentlichen Raum und in der deliberativen Politik. Übersetzung: Denilson Luís Werle. São Paulo, Unesp, 2023, 126 Seiten. [https://amzn.to/3YUJ1UP]
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